8. Gastbeitrag: Spiegel

17.02.10

An dieser Stelle folgt der achte Gastbeitrag aus der Blog-Reihe: „Ich sehe was, was du nicht siehst„. Geschrieben, gedacht, gesehen von Roman Held, dessen Blog Alternativen ihr jederzeit besuchen könnt, wenn ihr mehr von ihm lesen wollt.


Erinnerungen an die Frau vor und im Spiegel.

Das ist ein mein Lieblingsbild von ihr. Wann ist es entstanden? Ende der Achtziger, glaube ich. Hier auf der Rückseite steht es. 1988. Also bin ich auf dem Bild fünf Jahre alt. Und sie ist achtundvierzig.

Das da im Hintergrund ist der Stausee, an dem wir früher spazieren gegangen sind. Beinahe jeden Sonntag. Meine Großeltern, der halbe Landkreis und ich. Wir sind immer zuerst eine Runde um den See gelaufen, und im Sommer ist mein Großvater dann zum Auto gegangen und hat die Decke und den Korb aus dem Kofferraum geholt, während meine Großmutter und ich uns einen Platz auf der Wiese gesucht haben. Die Decke sieht man da am Rand, ganz unten. Es ist immer dieselbe geblieben, meine Großmutter hat sie selbst gestrickt. Auf dieser Decke habe ich die schönsten Sommertage meiner Kindheit verbracht. Zuerst habe ich darauf krabbeln gelernt, dann laufen und sprechen, und schließlich Kartenspielen. Mein Großvater hat immer ein Kartenspiel mitgenommen, egal wohin wir gefahren sind. Mau Mau haben wir oft gespielt. Und wenn wir nicht Karten gespielt haben, dann haben wir Wolkentiere gedeutet. Oder ich habe einen Blumenstrauß für meine Großmutter gepflückt, oder Marienkäfer für sie gesammelt, die mochte sie nämlich gern. Ich habe die Marienkäfer gesammelt, habe sie ihr auf die Handfläche gesetzt und dann haben wir zusammen ihre Punkte gezählt und sie dann wieder wegfliegen lassen. Manchmal habe ich auch mit meinem Großvater am Seeufer Muscheln für sie gesammelt. Nein, wirklich, da waren Muscheln. Zumindest habe ich das gedacht. Aber irgendwann fand ich heraus, dass mein Großvater immer welche in seiner Hosentasche hatte und sie heimlich hat fallen lassen, damit ich sie finden konnte. Ist ja auch egal. Das ist jedenfalls mein Lieblingsbild von ihr. Man sieht es, sie war ein Mensch, der sehr viel gelacht hat. Wenn ich so darüber nachdenke, ist sie wahrscheinlich der am glücklichsten wirkende Mensch, an den ich mich erinnern kann.

Die Frau im Spiegel war meine Großmutter, eine vornehme Dame, die schmuckglitzernd durch die Stadt ging, die jeden mit Namen kannte und immer herzlich begrüßte. Doch die Frau vor dem Spiegel war einfach nur meine Oma, die außer ihrem Ehering und einem Lächeln keinen Schmuck am Körper trug. Meine Oma, die auf ihrem Balkon Blumen umtopfte und frische Körner in das Vogelhaus neben dem Schlafzimmerfenster legte. Meine Oma, die mir versprach, dass ich alles werden könne, wenn ich nur immer meinem Herz folgen und andere Menschen so behandeln würde, wie ich selbst behandelt werden wolle. Meine Oma, die auf dem Boden im Wohnzimmer mit mir Bilder malte und sie danach zu den Familienfotos an ihre ‚Lieblingswand‘ hing. Meine Oma, die mit der Leselupe ihre Blumen für mich vergrößerte und mir erklärte, dass ein Mensch, der die kleinsten Dinge nicht als Wunder begreifen könne, niemals ein großes Wunder würde sehen können. Meine Oma, die staubsaugte und das Badezimmer putzte, die Wäsche wusch, für mich Spaghetti mit Tomatensoße kochte und meinen Lieblingskuchen, Zimt-Kirsch-Kuchen, für mich buk.

Meine Oma war eine einfache Frau, bis sie sich vor ihren Spiegel setze, um mit mir in der Stadt ein Eis essen oder am Ententeich spazieren zu gehen. Dann verwandelte sie sich von meiner Oma, die gerade noch Töpfe über die Herdplatten geschoben und dabei gesungen hatte, in diese stolze, große Dame, die überall Köpfe herumdrehte, Lächeln verteilte und mich dabei an der Hand führte wie einen kleinen Prinzen.

Wenn sie sich ankleidete, um das Haus zu verlassen, habe ich ihr immer gern zugesehen. Nicht so, wie Du jetzt denkst. Nein. Ich habe ihr gern dabei zugesehen, wie sie im Schlafzimmer vor dem Schminktisch mit den großen, ovalen Spiegeln saß und über dem, was sie bereits trug, noch eine weitere Schicht auftrug. Ich lag auf ihrem Bett und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Wie es glatter und makelloser wurde und sanft gerötet auf den Wangen, mit jeder mir magisch erscheinenden Geste ihrer Hände. Wie ihre Wimpern in Länge und Schwärze wuchsen und ihre Augen größer wurden, bis sie blau auf weiß in ihrem Gesicht schwammen und jeden Blick auffingen. Über ihrem Mund eine geschwungene Linie, hin und zurück, und in nur einer Bewegung waren ihre Lippen mit weichem Rot lackiert und schimmerten, wenn sie mich durch den Spiegel anlächelte. Und ihre Finger über der Schmuckschatulle schwebend. Wartend. Groß, sagte ich, Ich sagte immer Groß. Und immer lachte sie, strich sich die braunen Locken aus dem Gesicht und hinterließ Goldmünzen an ihren Ohrläppchen. Dann tauchte sie ihre Finger in die Schatulle und sie kamen mit Gold verziert wieder heraus. Flolein, Flolein, säuselte sie und sah mich durch ihren Spiegel an. Dann war ich dran. Ich rief, dass sie und nur sie die Schönste im Land sei. Und dann lachten wir über diese Zauberei, ich auf dem Bett und meine Großmutter im Spiegel.

Einen schönen Menschen erkennt man nicht an seinem Gesicht, sondern an seinem Lächeln, sagte sie oft zu mir, während sie sich verwandelte und ich verzaubert zusah. Gesichter können täuschen, doch wenn jemand lächelt, kann man ihm in die Seele blicken. Wenn Du Dich nicht traust, im Spiegel zu lächeln, solltest Du Dich nicht um Dein Gesicht kümmern, sondern um Deine Seele.

Wie zum Beweis lächelte sie sich dann im Spiegel an. Und was war das für ein Lächeln. Voll mit Glück und Güte, dem edelsten Fühlen und Fühlen Lassen. Wenn ihre Mundwinkel sich hoben, wurde die Welt um mich herum leise und was immer mir weh tat, verstummte mit der Welt. Ihr Lächeln war die Gewissheit, dass alles gut sein würde, irgendwann. Und das Gefühl, bis dahin in einem guten Moment geborgen zu sein.

Natürlich war sie in meinen Augen wunderschön. Du siehst es ja, sie war wirklich sehr hübsch. Und sie war immer gut gekleidet, wenn sie das Haus verließ. Elegant, aber nicht übertrieben. Mein Großvater hatte als Bankangestellter angefangen, hatte sich hochgearbeitet und war, als ich geboren wurde, seit fünfzehn Jahren leitender Direktor der größten Bankfiliale in der Stadt. Meine Großeltern waren also nicht gerade arm, wenn Du verstehst.

Einmal hat mein Großvater meiner Großmutter zu Weihnachten einen Pelzmantel geschenkt. Ich erinnere mich daran, weil es deshalb einen großen Streit gab. Sie wollte ihn nicht anziehen, sie hat ihn nicht einmal anprobiert. Sie hat ihn einfach fallen lassen und meinen Großvater angefahren, was er sich dabei gedacht hatte, für eine solche Scheußlichkeit noch Geld zu bezahlen. Ich verstand ihre Wut nicht, denn in meinen Augen war der Mantel schön. Später erklärte sie mir, woraus der Mantel gemacht war, nämlich aus ganz seltenen, flauschigen Hamsterbabies. Wer so etwas trage, erklärte sie mir, zeige damit nur allen Menschen, dass er zwar Geld, aber kein Herz besäße. Schmuck, sagte sie, könne man tragen, denn Schmuck ziere den Körper, verstecke aber nicht das Herz.

Und Schmuck besaß sie reichlich. Halsketten, Ringe, Ohrringe, Armbänder und Broschen, Wunderschönes, Filigranes und Großes aus Gold oder Weißgold, bestückt mit Diamanten und Rubinen. Ihr Schmuck hat mich immer fasziniert. Aber nicht sein Wert, sondern was der Schmuck aus ihr machte, wenn sie ihn vor dem Spiegel im Schlafzimmer anlegte. Nichts an mir wird auch nur halb so lange bestehen wie einer dieser Ringe, sagte sie und ließ ihre Hände vor meinen Augen funkeln, und deshalb gefällt mir Schmuck so gut. Ein Diamant vergeht nicht. Und es kann ein Trost sein, wenn man etwas Schönes besitzt, von dem man weiß, dass es nicht vergehen wird.

Ich war fünfzehn Jahre alt, als sie 1998 an Krebs erkrankte.

Der erste Tumor kostete sie einige Millimeter ihrer Oberlippe und uns beide die Frau im Spiegel. Nach der Operation war ihr Gesicht verschwunden und durch das verzerrte Bild in einem Zerrspiegel ersetzt worden. Nach ihrer Entlassung verließ sie die Wohnung nicht mehr.

Jetzt bin ich ein lebender Picasso, meinte sie scherzhaft, nachdem sie wieder neu gelernt hatte zu sprechen. Sie saß nicht mehr vor ihrem Spiegel und trug auch keinen Schmuck mehr. Wenn ich meine Oma besuchte, spielten wir im Wohnzimmer Karten oder bepflanzten den Balkon neu. Ich lag nie wieder auf ihrem Bett und habe nie wieder gesehen, wie sie sich im Spiegel verwandelte.

Nicht ganz ein Jahr nach der ersten Operation, sie war noch nicht wieder vollständig genesen, kam der Krebs zurück, an einer anderen Stelle in den Resten ihrer Oberlippe. Als meine Oma zum zweiten Mal auf dem Operationstisch gegen den Krebs antrat, trug ich mit meinem Vater ihren Schminktisch mit dem Spiegel aus ihrem Schlafzimmer und stellte ihn bei uns in den Keller, wo er noch heute steht. Sie hatte erklärt, dass sie ihn nicht mehr brauchen würde, denn man könne eine Menge wegschminken, aber hinschminken nur wenig.

Nach ihrer zweiten Rückkehr aus dem Krankenhaus teilte sie ihren Schmuck zwischen meiner Mutter und ihren beiden Schwestern auf. Ich habe keines der Stücke an einer von Ihnen gesehen.

Bei seinem dritten Erscheinen hatte der Krebs gestreut. Er kam mit Verstärkung.

Als meine Oma, vier Jahre nach dem Verschwinden meiner Großmutter, schließlich im Krankenhaus starb, war die Familie in ihrem Zimmer zusammengekommen und wir verbrachten ihren letzten Morgen gemeinsam. Zuletzt hatte der Krebs ihr die Stimme geraubt und so konnte sie nicht mehr sprechen, als wir in ihrem Zimmer standen und nicht wussten, ob wir auf mehr oder auf weniger Zeit hoffen sollten. Wir alle hatten Sonnenblumen mitgebracht, das sind immer ihre Lieblingsblumen gewesen. Die bescheidenste Schönheit der Natur, so hat sie die Sonnenblume genannt.

Wir wachten schweigend über sie und atmeten mit ihr zusammen. Und erinnerten uns dankbar an die Bilder aus unseren Leben, die wir mit ihr hatten teilen dürfen. Meine Oma schaute währenddessen für Ewigkeiten in irgendeine Ferne hinter uns, doch einige Male sah sie noch in unsere Gesichter und wir spürten, dass sie uns ansah. Und dann lächelte sie.

Fast noch genau so wie auf diesem Bild.

Der nächste Beitrag wird voraussichtlich am 21. Februar folgen und sich mit einem dieser drei Themen befassen: