29. Gastbeitrag: Sonnenbrille

19.07.10

An dieser Stelle folgt der 29. Gastbeitrag aus der Blog-Reihe: „Ich sehe was, was du nicht siehst„. Geschrieben, gedacht, gesehen von dem Vergrämer, den ihr jederzeit auf seinem Blog oder bei Twitter besuchen könnt, wenn ihr mehr von ihm lesen wollt.

Die Sonnenbrillen und ich – keine Liebesgeschichte

Die Sonne strahlt von einem wolkenlosen blauen Himmel. Ich sitze in einem Straßencafé und trinke Hagebutten-Tee. Mit einem Strohhalm. Ich trinke Hagebutten-Tee oft mit einem Strohhalm, nicht weil er dann besser schmeckt (er schmeckt sogar deutlich schlechter), sondern weil ich beim Saugen so süß aussehe. Reine Eitelkeit, ein Strohhalm steht mir einfach unfassbar gut. Er schmückt mich wie andere Leute ein Ohrring oder eine Kette. Ich will nicht prahlen, aber wenn ich mit spitzem Mündchen an dem dünnen Halm sauge und dabei kokett-verspielt von unten nach oben blicke, sieht das unheimlich goldig aus. Da geht einem das Herz auf. Es sei denn, man ist eine herzlose Bestie.

Ich beobachte mein Spiegelbild oft in der Glasfront des Straßencafés, erfreue mich an meiner Lieblichkeit und lache zwischendurch immer wieder beglückt auf. Im Ernst: Ich habe dann das Zeug zur Loreley. Nur dass ich nicht mein Haar kämme, sondern Hagebuttentee sauge.

Wenn mich Passanten oder andere Besucher des Eiscafés spontan knuddelten oder liebkosten, es wunderte mich nicht. Viele trauen sich aber nicht. Niemand traut sich. Noch nicht einmal, wenn ich direkt dazu auffordere: „Na, los. Kommen Sie. Sie dürfen mich ruhig knuddeln. Ich kann‘s ja verstehen. Ich knuddele mich auch gerne.“ Schüchternheit ist weiter verbreitet als man denkt. Hupend durch die Straßen fahren und den Hintern aus dem Fenster strecken – das können sie. Aber ihre Gefühle einem süßen Geschöpf wie mir zeigen, es einfach einmal herzhaft durchknuddeln – das trauen sie sich nicht.

Zugegeben: Heute wird mein entzückendes Äußeres von einem verkrampften Gesichtsausdruck getrübt. Denn hier an meinem Tisch mitten in der prallen Sonne ist es sehr hell. Und die weißen Häuserwände verstärken das grelle Sonnenlicht zusätzlich. Meine Augen brennen bereits, sie haben sich reflexhaft zu Schlitzen geformt, und auch der Rest meines Gesichts beteiligt sich an der Aktion „Schützt die Pupille unseres Herrn“: Die Nasenflügel sind angezogen, mein rechter Mundwinkel zerrt meine Gesichtshaut nach rechts in Richtung Ohr und sogar mein linker Mundwinkel befindet sich weit in der rechten Gesichtshälfte. Meine Augenbrauen und meine Oberlippe haben sich einander bis auf wenige Zentimeter genähert. Alles von mir völlig unkontrolliert. Meine unfreiwillige Grimasse – eine Folge der starken Helligkeit. Mein Spiegelbild in der Glasfront bestätigt mir: Ich habe einen seltsamen Gesichtsausdruck.

Der Kellner kommt an meinen Tisch. Ich erkenne ihn gegen die Sonne nur schemenhaft. Er fragt, ob es noch etwas sein darf. Ich halte meine rechte Hand wie eine Schirmmütze vor die Stirn, sehe ihn so freundlich an, wie mir das mit meiner Grimasse möglich ist und lehne aus schiefem Mund ab. Er verbeugt sich höflich, aber bevor er sich abwendet, merkt er noch an:

„Sie sehen übrigens äußerst entzückend aus, wenn Sie an Ihrem Strohhalm saugen. Ich möchte Sie am liebsten knuddeln. Süß, wie sich dabei immer Ihr Mündchen spitzt und Sie kokett von unten nach oben blicken.“ Ich bedanke mich artig für sein nettes Kompliment und fühle mich weiter rundum wohl.

„Ach, übrigens“, fügt er noch hinzu, und ich spüre, dass es jetzt unangenehm wird. Ich habe einen sechsten Sinn für unangenehme Situationen. Ich fühle sie schon, unmittelbar bevor sie eintreten. Wie manche Tiere ein Erdbeben vorausahnen, spüre ich, wenn sich zwischenmenschliches Ungemach ankündigt. Es mag vielleicht auch eine Frage der Lebenserfahrung sein, denn wann immer ich mich so rundum wohl fühlte wie jetzt, ging es danach sturzartig bergab.

„Ich beobachte schon die ganze Zeit, wie Sie gegen die Sonne kämpfen und dabei schreckliche Grimassen ziehen,“ führt der Kellner aus. „Die stehen Ihrem so entzückenden Strohhalm-Gesicht überhaupt nicht. Und es ist auch nicht sonderlich gut für die Haut. Gibt Falten. Außerdem schädigt die Sonne Ihre Augen. Ziehen Sie am besten eine Sonnenbrille auf.“

Oha, denke ich mir. Da hat er etwas gesagt. „Sonnenbrille“. Würde mich wundern, wenn ich das so ruhig hinnähme. Und da geht es auch schon los. Ich verschlucke mich. Mein eben noch harmlos nuckelndes Mündchen spuckt Strohhalm und Tee aus. Mein Gesicht verwandelt sich schlagartig in eine Fratze des Zorns (die sich praktischerweise von meiner Sonnenschutz-Grimasse nicht groß unterscheidet, deshalb ist „wechselt schlagartig“ vielleicht etwas übertrieben, es müsste eher heißen: „Bleibt wie es ist, muss aber anders interpretiert werden.“).

Ich greife mit beiden Händen meinen Tisch und werfe ihn im hohen Bogen über die Terrasse. Aschenbecher, Teetasse, Zuckerstreuer und Plastikspeisekarte fliegen den ersten Meter mit, trennen sich aber auf halber Strecke von dem Tisch und werden zu eigenen Flugobjekten.

Geduldig wende ich mich an den Kellner:

„DAS WEISS ICH SELBER, DU VERSCHISSENER ARSCH!“ entfährt es mir und ich klinge recht barsch.

(Zu meiner Verteidigung: Ich bin nun nicht mehr ich selbst, mein sozial verträgliches Ich hat sich an einen anderen Tisch zurückgezogen und beobachtet die Bestie in mir nachsichtig lächelnd – wie eine Mutter ihr randalierendes Kind). Ich werde Zeuge, wie ich das Ehepaar am Nachbartisch packe und die beiden mit voller Wucht mit den Köpfen zusammenstoße – bevor ich wie im Blutrausch auch den Rest des Cafés kurz und klein schlage und abschließend mit einer Arschbombe in das Straciatella-Eis springe.

An dieser Stelle muss ich etwas erklären.

Ich bin auf Sonnenbrillen nicht gut zu sprechen. Ich habe mit ihnen mein Leben lang nur schlechte Erfahrungen gemacht und wurde oft von ihnen verlassen. Immer, wenn ich sie wirklich gebraucht hätte, waren sie weg. Wie oft habe ich an dunklen Regentagen eine Sonnenbrille in meiner Wohnung liegen sehen und gedacht „Ah, da ist sie. Weißt Du, wo Du suchen musst, falls du sie mal brauchst.“ Aber sobald die Sonne wieder schien, hatte sich das Modell bereits unauffindbar verkrümelt. An besonders heißen Tagen hatte ich sogar Verständnis. Ich wollte mich bei hohen Temperaturen auch nicht auf eine schwitzige Nase legen.

Andere Sonnenbrillen waren wohl stark selbstmordgefährdet und sind von mir unbemerkt einfach aus meiner Tasche gesprungen. Oder haben sich heimlich unter meinen Popo geschoben, als ich mich gerade hinsetzen wollte. Und ich? Habe selbst diese verkrumpelten und verbogenen Sonnenbrillen tapfer getragen und mich damit zum Gespött gemacht.

Mittlerweile habe ich mit dem Thema Sonnenbrillen abgeschlossen. Sie haben mein Leben ruiniert. Auch finanziell. Große Teile meines Vermögens sind in die Unternehmen Ray Ban, Clavin Klein und Schlecker geflossen. Ich wollte nicht ohne Sonnenbrille leben, die undankbaren Dinger haben es aber nie lange bei mir ausgehalten. Immer wieder und wieder habe ich mir eine neue Brille gekauft. Denn ich weiß ja auch: Ohne Sonnenbrille stehe ich mit einem Bein im Grab. Ohne Sonnenbrille werde ich blind und meine Augen verschrumpeln.

Aber egal ob teures oder billiges Modell – jedes hat mich bereits nach wenigen Wochen verlassen. Spätestens. Ich habe sogar einmal eine Sonnenbrille gekauft, die war schon weg als ich gerade aus dem Laden auf die Straße getreten war. Solche Erfahrungen gingen nicht spurlos an mir vorüber. Mittlerweile habe ich resigniert und aufgegeben. Sonnenbrillen und ich – das passt nicht. Und so habe ich einfach akzeptiert, dass ich früh faltig werde und an Augenkrebs sterbe.

Wovon ich aber jede Menge besitze: Sonnenbrillenetuis. Die man beim Kauf einer teuren Sonnenbrille oft gratis dazu bekommt. Und in die man die Brille legen sollte, damit sie nicht kaputt oder verloren geht. Brille und Etui vertragen sich in der Regel allerdings auch nicht. Sie kommen genauso wenig miteinander klar wie Sonnenbrille und ich. Von den vielen Etuis hat mich noch keines verlassen. Ich habe sie alle noch. 9.832 Etuis. In einem eigenen Raum voller Etuis. Manchmal gehe ich in das Zimmer und weine gemeinsam mit den Etuis um die verlorenen Brillen. Dann fühle ich mich verstanden. Und nicht so allein.

Sollten Sie mir einmal begegnen, lieber Leser, machen Sie nicht den Fehler des Kellners: Lassen Sie uns nicht über Sonnenbrillen reden. Und bitte auch nicht über meine Nase. Die hat mich zwar noch nicht verlassen, aber sie ist hässlich und krumm. Ist mir unangenehm darauf angesprochen zu werden. Aber sie können ja später hinter meinem Rücken lästern.

Der nächste Beitrag wird voraussichtlich bald folgen und sich mit einem dieser drei Themen befassen: