30. Gastbeitrag: Natürlich habe ich Vorurteile

13.08.10

An dieser Stelle folgt der 30. Gastbeitrag aus der Blog-Reihe: „Ich sehe was, was du nicht siehst„. Geschrieben, gedacht, gesehen von saerdna.

In modernen Zeiten ist es politisch korrekt, wenn man von Leuten mit Migrationshintergrund spricht und gegendered ist, man vermeidet sexistische Sprüche und freut sich über ein schwules Pärchen auf der Straße, weil wir hypertolerant und super hip sind. Wir leben in einer Gesellschaft, in der anything goes angesagt ist – und das ist gut so. Mal abgesehen von ein paar ewig Gestrigen und den tattrigen Rentnern auf ihren modrigen Ledersofas leben wir in einer Welt voller Hippies und Blumenkindern. „Leben und leben lassen“, das ist die postadoleszente Parole der Mitglieder des post-materialistischen Milieus, die weiter nichts zu tun haben, als aus den Fenstern ihrer Etagenwohnungen zu schauen und sich an der lebhaften Atmosphäre der großstädtischen Flaniermeilen zu erfreuen. Ein Strom aus austauschbaren Konsumversessenen, der Massenbetrug an der Emanzipation des Individuums, das Schaufenster als Tor zur Welt. Dahinter verbirgt sich nichts weiter als die versunkene Lethargie eines Traums in ewiger Beta-Version … sich mit standardisierten Waren zu schmücken und diese derart schrill zu kombinieren, dass man auffällt wie ein Putzeimer. Und alle schreien so laut sie können, um im Krach der blechernen Geräusche ihrer abartig schlechten Musik, aus schlechten Lautsprechern, mit schlechter Qualität ihrer billigen Handtelefone ein wenig hervor zu stechen. Heutzutage darf jeder den anderen mit seinem kulturindustriell vernebelten Musikgeschmack in aller Öffentlichkeit belästigen und diejenigen als Spießer beschimpfen, deren Privatheit noch ein heiliges Gut ist. Die Massen im Kaufhaus sind gläserne Kunden auf der Jagd nach jedem noch so lächerlichen Schnäppchen der aus China importierten Billigwaren, in Sweat Shops von Kindern gefertigt mit einer Nachhaltigkeitsplakette unser rasenden Zeit versehen. Bereitwillig platzt die Geldbörse vor Plastik-Kundenkarten, die beim Kuchen muffeln in sterilen Räumen weltweit agierender Kaffeehausketten wie Statussymbole auf dem Tisch ausgebreitet werden. Wer heute nicht all seine persönlichen Neigungen, Schmutzigkeiten und heimlichen Liebschaften den Voyeuren der Werbewirtschaft ausplaudert, ist nicht existent. Man bekommt keine Post und keine Sau ruft einen an, um einem irgendetwas anzudrehen, was in die voll gestopfte Wohnung eh schon nicht mehr passt. Doch es bleiben Alternativen! Man kann sich vor seinen Rechner hängen und im digitalen Wirrwarr nach gleichgesinnten Spinnern suchen, die einem ähnlichen Spleen frönen. Im Internet findet sich die geballte Langeweile aus gelangweilten Langweilern, die noch so abstrus langweilige Geschichten von sich geben, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Man fragt sich, wo die Menschen die Zeit hernehmen, um sich stundenlang über alle möglichen Sachen auszulassen, irgendwelche Videos und Bilder hoch zu laden und die Welt mit ihrem Privatklüngel zu nerven, der mehr als peinlich ist. Fremdschämen in Perfektion, wenn man die vergeudete Zeit denn aufbringen möchte. Aber zum Glück löst sich die digitale Boheme längst wieder aus den Zwängen der virtuellen Zwangsjacken und schreit ihre Freiheit ins Morgenlicht hinaus, auf das die reale Welt in Trümmern zerbreche. Sie trägt die Cyberutopien in eine neue Hyperrealität, die uns alle zu Gleichen macht, weil wir in der Beliebigkeit der Zeichen unsere Orientierungen und Wertmuster längst verloren haben und nicht mehr wissen, was materielle Ungleichheit eigentlich bedeutet. Denn wir haben uns verabschiedet vom Realen, auch wenn wir jeden Tag aufs Neue unseren Tast- und Geruchssinn auf die Probe stellen dürfen, wenn wir wie kleine Kätzchen durch die stinkenden Straßen der vermoderten Städte laufen und uns keine Tiefkühlkost zur Verköstigung zu Schade ist. Aber was heißt das schon. Wir können uns selbst nicht mehr über den Weg trauen, weil wir längst verlernt haben, wie das Einzigartige schmeckt. Die digitalen Evangelisten schleppen ihre Laptop-Taschen in die entferntesten Ecken unseres Kontinents, besetzen damit die Sitze in den öffentlichen Verkehrsmitteln und belagern die Kneipen und Cafés mit ihrem Tastaturgeklimper, das das süße Rühren des silbernen Löffels im Milchschaum längst übertönt. Die letzten öffentlichen Rückzugsräume des unbeschwerten Amüsements und des entspannenden Small-Talks werden vom Diktat der Verwertungszwänge kolonisiert. Sie empfinden nichts dabei, kein Hinweis auf eine noch so kleine Gefühlsregung. Das Maschinenstampfen des Fordismus ist endgültig abgelöst durch die hohlen und leeren Gesichter der Workaholics der Dienstleistungsbranche, die das Wort ‚Muse‘ nicht mehr kennen und die Arbeit längst zur Freizeitbeschäftigung auserkoren haben. Sie sind so wichtig, dass sie auch um Mitternacht noch an neuen Ideen grübeln müssen, allein mit sich und der Maschine, das Flimmern der Screens auf ihren Designerbrillen. Die Atomisierung des schlecht bezahlten Selbstoptimierers auf ihre Umwelt übertragend, bleibt dem Rest nichts weiter übrig, als sich unkommunikativ hinter ihren aufgeklappten Bildschirmen zu verschanzen, ohne von der verbotenen und leuchtenden Frucht zu naschen, die unsere Welt in Unheil stürzen würde. Es ist das Verbot aufzubegehren, Einwand zu erheben, vernichtende Kritik zu üben, das einen bitteren Geschmack bei mir hinterlässt. Die Pseudotoleranz schützt die Ahnungslosen gegen den Denkmalsturz ihrer Illusionen und macht den Widersprechenden gegen die Unvernunft unserer Gesellschaft zum Querulanten, der den heiligen Frieden stört. Es ist existenziell für den Widerstand, sich der politischen Korrektheit der Moralprediger zu widersetzen. Ich bin kein Misanthrop, aber zuhören will mir trotzdem niemand. Und natürlich habe ich Vorurteile, wo käme ich sonst hin mit meiner Lebensphilosophie, die sich auf das digitale 0 und 1 reduzieren lässt. Mein binäres Schema hat sich als gangbarer Weg erwiesen, dieses komplexe Durcheinander auf zwei Zahlen zu beschränken. Diese Vorurteile gegen den Anhänger des Stumpfsinns sind es, die mir Halt geben und mir versichern, was meine Welt im Innersten zusammen hält.

Der nächste Beitrag wird voraussichtlich bald folgen und sich hiermit befassen: