Jobben
24.12.09Wenigstens war er jetzt wach. Mit tonnenschweren und deswegen auch weiterhin geschlossenen Augenlidern legte er seine pochende Faust in seinen Handteller und begann zu reiben. Der Schmerz zeigte sich komplett unbeeindruckt und pochte munter weiter. Sein Gehirn jedoch weigerte sich, mit ihm aufzustehen und ließ alle Funktionen bis auf Weiteres offline. Also rollte er sich zombieartig zur Bettkante, lokalisierte den Lärm und griff eher ungelenk nach seinem Handy. Blind wie er war, musste er sich voll und ganz auf seinen Tastsinn verlassen, als er den Knopf drückte. „Schlummerfunktion aktiv“; das würde er nie lesen. Hauptsache Ruhe.
Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Faust war bereits wach und der Körper begann sich allmählich der konditionierten Routine zu unterwerfen. Schließlich ging das jetzt seit 3 Monaten so. 7 Uhr 33. An einem Sonntag. Mitten im Winter. Wie sehr er Geld hasste.
Aufstehen im Zeitlupenmodus, ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, kurz am Arsch gekratzt und dann wieder auf’s Bett gefallen. Beinahe magnetisch. 7 Uhr 44, als er sich wieder bewegte. Zum Glück war die Bibliothek gleich um die Ecke.
Seine Hose lag am Boden, keine zwei Meter von seinem Bett entfernt, man sah genau, wie er sie gestern ausgezogen haben musste, einstiegsbereit, sein Unterhemd lag auf dem Weg ins Wohnzimmer, wo sich sein Hoodie und die schwarze Lederjacke befanden. Ineinander, ebenfalls auf das Minimum an Körperbewegungen reduziert. Ein kurzer Klatscher; die Schlüssel antworteten mit einem mechanischen Klappern aus der linken Außentasche. Weiße Kopfhörer baumelten kurz über dem Abgrund unsystematisch hin und her, sein iPod war zur rechten Hand. Die Tür geht auf. Kalt.
Die Straßen waren absolut menschenleer und der Wind wehte Alkoholfahnen aus den umliegenden Kneipen direkt in sein Gesicht. Der einzige Bürger in Öffentlichkeit zieht seinen Kopf ein und versteckt sich noch ein bisschen tiefer in seiner Jacke. Scheiße, dass die Mütze einen solchen Umweg erfordert hätte. Und scheiße auch, dass die Zeit sonntagfrüh nichts besseres zu tun hatte, als sich in der eigenen Relativität zu gefallen. Selbst die Ampeln der Hauptstraße schliefen noch.
Kein Blick nach links, kein Blick nach rechts und dann überquert er die Straße. Kurz bevor er den Bürgersteig erreicht jedoch ein Geräusch, so unnatürlich, es musste eine Erfindung der Menschheit sein. Doch bevor er seinen Kopf wenden kann, hört er eine Klingel, kurz gefolgt von einem „Heey, Du Arschloch“, als der Fahrradstudent in letzter Sekunde sein Lenkrad mit voller Kraft herumriss und die nächsten fünf Meter in sehr spitzem Winkel gefährlich aussehende Schlangenlinien kurvte, bevor sich alles wieder in Monotonie verlor. Er war also schon angekommen. Langsam, aber bestimmt griff er nach den Kopfhörern und stöpselte sie in die Ohren, drückte auf Play und hörte nicht richtig hin. Wichtig war nur, dass er die Anderen nicht hörte.
Die Schlange war lang, ein Zeichen dafür, dass sich das Semester dem Ende neigte. Prüfungszeit. Münder bewegten sich rasend schnell, Füße konnten nicht still halten, Bücher fielen runter, doch für etwaige Flirts keine Zeit, Uni ist Selbsthilfe, also schnell gebückt, den Wälzer aufgehoben und weiter warten. Reden, Medizin, Jura, Politik, Chemie, das gesamte Wissen der Welt zerredet von hektischen Studenten in Torschusspanik. Dann kam der Pförtner, pünktlich um 7:59 und die Fließbandabfertigung begann. Schritt für Schritt. Es ist 8:07 und nur noch eine Person vor ihm in der Schlange. Druck auf Play/Pause.
„Bücher dabei?“
„Ja“
„Bitte beim Hinausgehen ungefragt hervorzeigen“
„Ja, klar, weiß ich schon. Mache ich immer. Wissen Sie, ich bin jeden Sonntag hier und da lernt man sich, anzupassen, nicht wahr?. Gut, ich geh jetzt rein. Ciao. Oder besser: Bis später!“
Er war dran.
„Bücher dabei.“
„Nein.“
Dann geht es schnell. Vorbei am Wachhund, die Glastür mühsam aufgewuchtet, das Blatt aus seiner Hosentasche herausgekramt, den Catwalk der Bibliothek entlanggegangen, sich an dem Platz, der mit einem schwarzen X markiert ist, erster Stock, recht mittig, hingesetzt, noch kurz auf Play gedrückt und dann endlich wieder Schlaf.
Es ist 12 Uhr 30, als er doch eher unsanft wachgerüttelt wird. Es war Marcel. Er nahm die Kopfhörer aus seinem Ohr, stand auf, nahm die 45€ in 2x20ern und einem 5er entgegen und verließ die Bibliothek. Als er die Treppe runtergeht, muss er penibel genau darauf achten, nicht auf einen Studenten zu treten. Marcel setzt sich, stopft sich zwei Oropax in die Ohren und beginnt zu lernen.