7. Gastbeitrag: Eselsohren
13.02.10An dieser Stelle folgt der siebte Gastbeitrag aus der Blog-Reihe: „Ich sehe was, was du nicht siehst„. Geschrieben, gedacht, gesehen von Maike, deren Blog Ruhepuls ihr jederzeit besuchen könnt, wenn ihr mehr von ihr lesen wollt.
Die meiste Zeit lese ich in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich benutze kein Lesezeichen, um beim nächsten Mal zu wissen, wo es weitergeht, sondern knicke stattdessen eine kleine Ecke der entsprechenden Seite um. Leider kann ich in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht gut bei mir sein und mich abgrenzen. So steht jedes Eselsohr auch für etwas, das um mich herum geschah.
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Es ist nicht sehr voll in der Bahn und irgendwo weiter hinten befindet sich ein Mann, der sehr laut telefoniert. Es geht um seinen Job, dass er sich irgend etwas nicht mehr gefallen lasse, dass die ihn wohl alle für dumm hielten, dabei sei er das doch gar nicht.
Ich bin mir da aufgrund seiner Ausdrucksweise und seines Verhaltens nicht so sicher.
„Verarschen kann ich mich auch alleine!“ schreit er immer wieder. Und je häufiger er dies tut, desto unklarer wird mir der Inhalt des Satzes.
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Noch bevor jemand der Mutter mit dem Kinderwagen Hilfe anbieten kann, prescht sie hektisch zur Tür und schiebt den Wagen hinaus. Die Schnauze ist schon an der frischen Luft, da donnern die Räder Treppe für Treppe hinab und hinaus. Die Arme der Mutter sind ganz angespannt, um die Last zu halten und das kleine Menschengrüppchen in der Bahn raunt. Kopfschüttelnd gucken die Leute der Mutter hinterher. Vielleicht musste sie in der Vergangenheit zu oft auf diese Art und Weise die Bahn verlassen, so dass sie nun gar nicht mehr anders kann.
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Eine Gruppe aus Müttern, Vätern und Kindern steigt ein. Alle Erwachsenen tragen handgestrickte Lapplandmützen, Fleece-Schals, Anoraks und Schneehosen und sind irgendwie alterslos, könnten fünfzig sein oder zwanzig. Sie haben von der Kälte gerötete Gesichter, kommen vom Schlittenfahren und wirken ekelhaft gesund. Eines der Kinder beginnt direkt nach dem Einsteigen, einen Satz zu kreischen und ständig zu wiederholen:
„In der Zeitung steht Benzin. Aber wir sind in Berlin!! In der Zeitung steht Benzin. Aber wir sind in Berlin!! In der Zeitung steht Benzin. Aber wir sind in Berlin!! In der Zeitung steht Benzin. Aber wir sind in Berlin!! In der Zeitung steht Benzin. Aber wir sind in Berlin!!“
Die Erwachsenen unterhalten sich weiter und die Worte des Kindes nehmen immer mehr Raum ein, bohren sich in die Köpfe der Fahrgäste, prallen an den zerkratzten Scheiben ab, um sich nach und nach ineinander zu verwirbeln und quälend potenzieren. Die anderen Kinder zählen in der Zwischenzeit laut die Fahrgäste und lediglich die Kälte hält mich davon ab, auszusteigen.
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Das Pärchen mir gegenüber spricht kaum. Die junge Frau schmiegt sich an ihren Freund. Ab und an flüstert sie ihm etwas ins Ohr. Er streicht ihr über die Stirn oder drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe und ich muss immer wieder hingucken, wegen dieser Nähe, die ich aus eigener Erfahrung gar nicht mehr kenne und die so präsent ist, dass es mich ein wenig schmerzt. Beide sehen glücklich aus, ich ahne, dass sie die gegenseitigen Berührungen noch bewusst wahrnehmen, diese noch keine Selbstverständlichkeiten sind, und die beiden überall sitzen könnten, Hauptsache zusammen.
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Ein junger Mann mit voluminösem Rucksack steigt ein und okkupiert zwei Sitze. Er kommt nicht zur Ruhe, obwohl sein Gepäck irgendwann endlich neben ihm steht und er seinen linken Arm darum gelegt hat, fast wie um eine Geliebte. Dass er schon seit Tagen nicht mehr als vier Stunden die Nacht geschlafen habe, flüstert er. Dass die Last des Rucksacks ihn einige Mal fast zu Boden gezerrt habe, weil die Gehwege so glatt sind. Dass er so viel arbeiten müsse. Ständig die Wiederholung, dass ihm Schlaf fehle und dass er sich doch so sehr bemühe, alles richtig zu machen und wir uns mal in seine Lage versetzen sollten. Sein Gesicht ist rot, die Augen blicken müde und fahrig zugleich. Ich glaube, er merkt gar nicht, dass er all diese Wort nicht nur denkt, sondern sie ausspricht.
Ich beobachte die Menschen um ihn herum. Niemand sonst nimmt ihn wahr und es kommt mir eigenartig vor, wo wir doch hier so viele sind.
Ich lese seit acht Wochen das gleiche Buch.