11. Gastbeitrag: Heimweh

01.03.10

An dieser Stelle folgt der elfte Gastbeitrag aus der Blog-Reihe: „Ich sehe was, was du nicht siehst„. Geschrieben, gedacht, gesehen von Anika, deren Blog knallrosa Tagebuch ihr jederzeit besuchen könnt, wenn ihr mehr von ihr lesen wollt.


Den Tag bevor mich meine Eltern abholten, hatte ich das schlimmste Heimweh.
Damals auf Kur. Es konnte mir nicht schnell genug nach Hause gehen und außerdem hatte ich Freundinnenstress. Meine nassen Schluchzer im Kopfkissen vergraben lag ich in meinem 6-Mädchen-Zimmer-Bett. In meiner Hand einen zerknüllten Zettel auf dem stand, was für eine doofe Kuh ich doch sei. gez. meine Kurfreundin. Wir hatten es geschafft, uns die letzten Tage vor meiner Abreise zu verfeinden.
Damals war ich zwölf, meine Eltern kamen mich 24 Stunden später abholen und mein Elend war schnell zuende. Mit leichtem Herzen bin ich ins Auto nach Hause gehüpft, hab meine Zahnspange ausgespuckt, um der Kurfeindin noch einmal mit ausgestreckter Zunge Tschüss-zu winken. Sie musste noch zwei Wochen länger da bleiben.

Elf Jahre sind inzwischen vergangen, ich habe keine Spange mehr, die Kurfeindin nie wieder gesehen und studiere gerade für ein halbes Jahr in Schweden. Meine Schluchzer musste ich hier noch nicht in der Bettdecke ersticken, aber Heimweh gibt es trotzdem. Es ist mit Anfang zwanzig noch genauso schlimm, wie mit zwölf, nur leiser geworden. Wie ein kleines Tierchen, das sich an mein Bein klammert. Das ich jedes Mal abzupfe und zurück schicke, aber immer kommt es wieder, klettert meine Hose hoch und baut sich ein Nest in meiner Kapuze.

Dabei habe ich mich so danach gesehnt, Berlin zu verlassen, ein Ziel zu haben, den Alltag zu durchbrechen, etwas Neues zu erleben. Neue Menschen, neue Sprache, neue Umgebung, neue Erlebnisse, Erfahrungen, neue Horizonte. Aber was alles so reiseverkaufsmäßig klingt ist im Grunde gar nicht so aufregend.
Sicher, man zieht in eine neue WG, man freundet sich sogar an, man sucht sich ein paar Leute mit denen es sich aushalten lässt, aber im Grunde sind sie alle nur Überwasserhalter. An die Freunde zuhause kommen sie nie heran. Man hat ja auch sein ganzes Leben gebraucht, um sie zu finden und festzuhalten und mit ihnen so zu werden, dass es weh tut, wenn man sich nicht mehr täglich sieht. Die-behalte-ich-Freunde. Man müsste man schon ein verteufeltes Glücksschwein sein, wenn man in einem halben Jahr im Ausland noch tollere Leute kennenlernt, als in der Heimat.
Das Leben wird nicht besser davon,  nur weil man es im Ausland lebt. Man kann vor nichts wegrennen, nur weil man wegzieht. Alle Stärken und Schwächen, alle Probleme und Träume ziehen ja  mit.

Was in meinen Schwärmereien von Schweden, von kleinen Holzhäusern, von Meernähe und niedlichen Städtchen nie vorgekam, ist das Neuanfangen. Man weiß gar nicht, wie gut man es doch zuhause hat, weil man die Muttersprache spricht, die Kassiererin nicht hilflos angucken muss, weil sie einen wieder zu schnell nach irgendetwas gefragt hat und weil man sich auskennt und in seiner Stadt InsiderIn ist. Hier ist man wieder OutsiderIn und vor allem AusländerIn. Man ist die-anderen, man strauchelt wie damals bei den ersten Gehversuchen auf kleinen dicken Ausprobierbeinchen herum und versucht, eingelebt auszusehen, Ahnung zu haben und nicht herumzulaufen, wie Touristen.

Schön ist es natürlich, wenn man langsam die besten Abkürzungen kennt, den Obsthändler, den leckersten Kaffee. Das erste Mal den Kassierer selbst fragen, ob er noch zwei Kronen braucht. Die erste durchgequatschte Nacht. Erste Erfolge feiern wieder. Das kann man natürlich auch nur weit weg vom eingelebten Zuhause wiedererleben. Dass man sich behaupten muss und kann und dass man merkt, okay, das schaffe ich auch. Auch wenn man mich ins Ausland wirft, ich lande immer wieder auf den Füßen, die Gehen gelernt haben. Schön zu wissen. Und schön zu merken, wie es im Bauch zieht wenn ich an Berlin denke, wie ich verbunden bin mit der Heimat, dass da etwas ist, das bleibt. In mir drin.
Dass der letzte Tag wieder der schlimmste sein wird, weiß ich jetzt schon. Vielleicht, weil ich Schweden schon im voraus vermissen werde. Vielleicht, weil ich nicht schnell genug Richtung Heimat fliegen kann.

Aber wie eine der die-behalte-ich Freundinnen immer gesagt hat:

Um wiederzukommen nach Hause muss man erstmal weggehen.

Der nächste Beitrag wird voraussichtlich am 5. oder 8. März folgen und sich mit einem dieser drei Themen befassen: