19. Gastbeitrag: Das jüngste Gericht

10.04.10

An dieser Stelle folgt der 19. Gastbeitrag aus der Blog-Reihe: „Ich sehe was, was du nicht siehst„. Geschrieben, gedacht, gesehen von Konna, dessen Blog Gedankendeponie ihr jederzeit besuchen könnt, wenn ihr mehr von ihm lesen wollt.


Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, wir berichten heute live vom Jüngsten Gericht, dem größten Schauprozess, den die Welt jemals gesehen hat. Auf der Anklagebank sitzt niemand Geringeres als die Menschheit selbst. Der Prozess zieht sich nun schon Jahre hin, der Menschheit wurden in der Anklageverlesung Abertausende von Verbrechen zur Last gelegt, zahlreiche Zeugenaussagen wurden aufgenommen und die Beweislage scheint eindeutig.

Die Stimmung ist sehr angespannt und alle warten auf die Schlussplädoyers. Experten schätzen die Chancen der Verteidigung als verschwindend gering ein, dennoch sind alle gespannt, wie Pflichtverteidiger Konna es schaffen will, diesen Prozess zu einem positiven Ende für seinen Mandanten zu bringen. Zunächst hat jedoch die Klägerseite das Wort.

„Es ist doch offensichtlich, dass die Menschheit sich einer gar nicht fassbaren Anzahl Verbrechen schuldig gemacht hat und immer noch macht. Sie leugnet es nicht einmal, man kann es überall nachlesen. Seit es die Menschen gibt, werden sie geleitet von Selbstsucht, Neid und Hass, sie leben ohne Respekt vor der Umwelt oder anderen Menschen. Sie vergehen sich an Kindern und gieren nach Reichtum.

Sowohl im Großen wie auch im Kleinen verhalten sie sich nicht so, wie man es sich wünschen würde. Sie lügen sich gegenseitig an, heucheln anderen etwas vor, verbreiten Gerüchte, schüren Vorurteile und so vieles mehr. Der Prozess hier hat deutlich genug aufgezeigt, dass die Menschheit schuldig ist. Und das Schlimmste ist: Sie bereuen nichts. Nein, sie schieben die Schuld einfach immer weiter, anstatt dass sie für ihre eigenen Taten gerade stehen. Und darum muss das Urteil schuldig lauten. Es kann nur schuldig lauten.“

Betretenes Schweigen im Gerichtssaal. Einige schauen zu Boden, andere nicken. Einer vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. In der Zwischenzeit hat sich der Anwalt erhoben und ist langsam in die Mitte des Saales gegangen. Er blickt den Geschworenen tief in die Augen und beginnt sein Plädoyer.

„Der berühmte antike Dichter Horaz sagte einmal ‚vitiis nemo sine nascitur‘, niemand wird ohne Fehler geboren. Und es stimmt, jeder Mensch hat Fehler, es liegt in der Natur des Menschen, Fehler zu haben und Fehler zu machen. Aber ist es wirklich gerecht, wenn man uns das vorwirft?

Wir Menschen haben nämlich auch sehr viele gute Seiten, die aber immer wieder gern vergessen werden. Es müssen ja nicht immer nur die großen Dinge sein. Ich bin in meinem Leben schon auf so viel Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit gestoßen, habe Menschen gesehen, die sich mit Hingabe dem Wohl der Allgemeinheit oder der Natur verschrieben haben und sich selbst für andere aufreiben. Großzügigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit und Demut sind alles menschliche Tugenden.

Die Klägerseite macht es sich viel zu einfach. Sie sieht nur die schlechten Dinge an den Menschen. Und es ist unbestritten, dass den Menschen diese Eigenschaften eigen sind. Aber überwiegt das? Dürfen die schwerwiegenden Taten einiger weniger im Verhältnis zu den guten Dingen, die Menschen jeden Tag vollbringen, mehr Gewicht haben?

Eine Entscheidung dieser Fragen steht dem Jüngsten Gericht doch gar nicht zu. Das Urteil sollte in unsere eigenen Hände gelegt werden. Wir haben damit doch auch schon längst angefangen. Dass wir die Verbrechen der Menschheit schriftlich festhalten, ist eine Mahnung an uns selbst. Wir alle befinden uns in einem steten Lernprozess. In der Zukunft werden wir selbst zu unserem Richter werden. Ich bin davon überzeugt, dass sich das Gute im Menschen als stärker erweisen wird. Und ich hoffe, dass auch Sie alle das Gute im Menschen sehen und schätzen und das in ihrem Urteil berücksichtigen.

Die Geschworenen ziehen sich zur Beratung zurück. Wie werden sie urteilen? Die Beweislast ist erdrückend, aber zählen womöglich weniger die Fakten als vielmehr das Herz, die Emotionen? Minuten vergehen wie Stunden. Nach langer Wartezeit treten die Geschworenen wieder in den Gerichtssaal. Der Richter ergreift das Wort und fragt:

„Sprecher der Geschworenen, sind Sie zu einem einstimmigen Urteil gekommen?“

„Ja, euer Ehren, das sind wir.“

Der nächste Beitrag wird voraussichtlich am 17. April folgen und sich mit einem dieser drei Themen befassen: