Merk-würdig

30.05.10

(Via)

Sie tanzt über das Nass. Gleitet durch den Regen, teilt die Tropfen wie einen Vorhang und scheint unberührt von ihnen. Unberührt vom Außen und zu sehr im Innen, um mehr zu wollen als das, was sie dort vorfindet. Die Musik so spürbar, dass ich sie fast hören kann, während ich sie betrachte. Es macht sie schön, das Tanzen. Ihr Körper wirkt freier, ungezwungener, als vergäße sie endlich all die Zwänge, die sie ihr auferlegten, um dem zu entsprechen, was von ihr erwartet wird. Die Worte scheinen nicht länger in ihren Ohren zu klingen, die sie auffordern, mehr zu essen, mehr zu lernen, mehr zu tun und mehr zu sein. Mit jedem verlangten mehr kommt nur ein großes weniger. Weniger von ihr, die sie nicht mehr ist und nicht mehr isst. Weniger von dem, was ich so an ihr liebte, als sie noch sie war und sich den Stimmen verschloss, die sie zu einem gesellschaftsfähigen Menschen machen wollten und stattdessen immer mehr Teile ihrer Seele herausrissen, bis kaum noch etwas übrig geblieben war.

Doch sobald sie tanzt, ist sie wieder da. Die Musik kitzelt das aus ihr heraus, was noch übrig ist. Es übernimmt ihren Körper, kämpft ihre Ängste und ihre Verzweiflung mit so wenigen Schlägen zu Boden, als könnte es dieses Spiel ewig wiederholen und schafft dem Platz, was sie einmal war. Sie tanzt und erst, wenn ihr Tanz langsam endet, wenn die Ängste sich erholt haben und langsam wieder Oberhand gewinnen, erst dann trifft der Regen auf ihren mageren Körper, der wie durchscheinend wirkt. Manchmal glaube ich, dieser Moment hätte nur einen Atemzug gedauert, doch er kam mir so viel länger vor. Vielleicht, weil er so schön war. So schön und merk-würdig.