Ein ganz normaler Tag
22.10.10(Via)
Ich weiß noch, wie der Herbst kam, als ich kleiner war. Der Herbst war mir immer der Liebste, ohne, dass ich hätte sagen können, woran das liegt. Heute könnte ich die zu oft genutzten Worte des Übergangs, der Melancholie und den letzten kämpfenden Blättern benutzen, um etwas zu beschreiben, was nicht beschrieben werden muss.
Einmal ließen wir einen Drachen steigen, meine Ma und ich. Der Wind wollte nicht so richtig, aber meine Mama ist eine Kämpferin, die nicht einmal die Natur akzeptiert, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Der Park war menschenleer, bis auf uns, klein und unbedeutend auf einer Wiese. Ich weiß gar nicht mehr, ob der Drachen je in die Luft gelangte, aber ich weiß noch, dass wir nach Hause kamen und meine Eltern sich stritten, weil meine Ma den Drachen an einer Stelle hatte steigen lassen wollen, an der die Stromleitungen dunkel und schwer in der Luft hingen.
Mein Dad benutzte dieses Bild oft, um meine Ma und ihre Kämpfernatur zu beschreiben und wurde es nie müde, zu betonen, wie dickköpfig sein kann, wenn sie ein Ziel vor Augen hat.
Jetzt ist der Herbst wieder da. Ich friere und die Blätter sind bunt. Ich friere und rieche bereits den kalten, schneidenden Geruch des Winters in der Luft. Wie in jedem Herbst wünsche ich mir, einen Drachen steigen zu lassen. Wie in jedem Herbst weiß ich, dass ich keinen Drachen steigen lassen werde. Aber ich sehe noch immer den Gesichtsausdruck meiner Ma, mit dem sie den Drachen immer wieder in die Luft zwingt und höre noch immer meinen Dad, wie er sich über meine Ma aufregt.
Ein ganz normaler Tag.