Vermissend

09.11.10

Zwischendurch kommen sie immer noch: Diese Aha-Erlebnisse. Schlagartigen blitzen Sätze in meinem Kopf auf wie „Werde ich ihn je wieder sehen?“ und abgesehen davon, dass ich dann Grundsatzdiskussionen ausgesetzt bin, ob es ein Leben nach dem Tod gibt und wir alle am selben Ort landen, wird mir dann auch immer wieder klar, dass mein Dad wirklich tot ist.

Ich war noch immer nicht an seinem Grab. Irgendwie schaffe ich es einfach nicht, dorthin zu fahren. Sobald ich daran denke, dass ich das mal tun könnte, kommen Überlegungen wie: Er liegt da jetzt. Er vergammelt. Was ist, wenn seine Seele an seinen Körper gefangen ist und er dort leidet. Ich will ihn nicht leiden sehen. Nicht noch mehr, als ich es eh schon tat.

Jetzt im Nachhinein fallen mir immer mehr Dinge auf, die ich als Tochter einfach .. nicht richtig machte. Wir hatten ein anderes Verhältnis zueinander als ich beispielsweise zu meiner Ma habe. Meine Ma ist .. genau das: Meine Mutter. Aber mein Dad war nicht (mehr) mein Dad, sondern ein Freund. Jemand, der mich gleichwertig behandelte und Gespräche mit mir führte, die rein gar nichts mit dem höher gestellten Vater und der aufblickenden Tochter zu tun hatten. Wir standen uns auf einer Ebene gegenüber und ja, das lag vermutlich daran, dass meine Ma sich um meine Erziehung kümmerte und mein Dad eigentlich immer einfach nur da war. Dadurch entwickelte sich eine Freundschaft, aber eben kaum ein Vater-Tochter-Verhältnis. Und ich vermisse diese Freundschaft so sehr.

Es fällt mir schwer, daran zu denken, dass ich jetzt meine Bachelorarbeit anfange – ohne ihn an meiner Seite. Da ist niemand mehr, der seine beratende Funktion ausfüllen kann und auch, wenn z. B. ichgehschlafen sich alle Mühe gibt, mir Feedback zu geben, mir bei meiner Gliederung zu helfen und das Ganze einmal durchzuexerzieren – mir fehlt mein Dad. Und das kann niemand ersetzen. Ich weiß, was er zu meiner Bachelorarbeit bzw. der Idee dahinter sagen würde. Ich weiß auch, welche Tipps er mir geben würde und wie er mich amüsiert dabei beobachten würde, mich in die Materie einzulesen, die er in- und auswendig kannte. Aber es ist nicht dasselbe, wenn ich es nur weiß. Ich will es von ihm hören. Ich will so vieles von ihm hören, dass es mich ganz wahnsinnig macht, ihn nicht anrufen zu können.

Außerdem kommt bald Weihnachten und Weihnachten mit der Familie war immer irgendwie schrecklich. Mein Dad hatte solange schlechte Laune, bis meine Ma ihm versicherte, dass sie Gans macht. Danach war seine Laune besser, ihre dafür aber im Keller, weil sie dieses mir unerklärliche Mitleid mit den viel zu lecker schmeckenden Gänsen hat, als dass sie die guten Gewissens zubereiten könnte. Tat sie dann zwar trotzdem, aber die Atmosphäre war angespannt. Danach gab es Geschenke und zwangsläufig kam von meinem Dad irgendwann die Frage, ob das nicht viel zu viele seien, woraufhin meine Ma sich kritisiert fühlte, zuviel Geld ausgegeben zu haben und noch schlechtere Laune bekam. Irgendwann verschwanden mein Bruder und ich dann auf unsere Zimmer, um uns mit unseren neuen Geschenken zu befassen und ließen unsere Eltern in ihrer schlechten Laune zurück. Aber das wäre genau das Weihnachten, was ich jetzt bitte gerne hätte. Sollen sie sich streiten – es wär mir egal.

Wenigstens wäre mein Dad wieder da.