Frau J. und der Löwe

18.12.10

(Via)

Wir waren eine eigenartige Klasse. Vielleicht war es der Zufall, der mich mit meiner damaligen Clique[1. Ich kann das Wort einfach nicht leiden :D] zusammenführte, vielleicht war es das Schicksal, göttliche Vorsehung oder der satanische Plan irgendeines Opferkultclans. Was auch immer es war: Wir trafen aufeinander und erkannten die Andersartigkeit unserer Gegenüber an. Da war C., die stets danach drängte, die Gruppe anzuführen. N., die irgendwie still war, um dann plötzlich voll aufzudrehen. R., zu der wir alle ein schwieriges Verhältnis hatten, obwohl sie der loyalste Mensch war und ist, den ich je kennengelernt habe. S., die schon damals viel größer als wir alle waren. V., die immer so tat, als wär sie ein zuckersüßes, kleines Mädchen. Und K., die aus so vielen Persönlichkeiten bestand, dass uns nie langweilig wurde.[2. Ganz ausnahmsweise gibt es keine Namen, sondern nur Kürzel.]

Der Rest der Klasse war egal. Er bedeutete nichts. Generell war uns nichts auch nur ansatzweise so wichtig wie wir.

Es war irgendwann im Sommer, als die Sonne von draußen lockte, die Blätter im Wind an den Scheiben rieben und sich unsere Englischlehrerin verspätete. Heute tut sie mir ein wenig Leid, weil sie eine so liebe Frau war – aber genau das war ihr Fehler. Wir waren vielleicht keine Problemklasse, wie es sie heute gibt, aber katholische Mädchenschule hin oder her – wir waren weder nett noch handzahm. Wir waren unhöfliche Teenager, eingepfercht in einer Schule, die durch den wöchentlichen Schulgottesdienst und Wallfahrten glänzte, in der Zeitung ob ihres guten Schulchors erschien, aber eben doch nur eine Schule war.

Die Verspätung kam uns ganz recht. Je länger die Lehrerin brauchte, desto mehr Zeit hatten wir, einen Streich zu planen. Ja, sowas gab es zu meinen Zeiten noch. Wir versteckten K. in der hinteren Ecke unseres Klassenzimmers, die durch einige mädchenhohe Bücherregale vom Rest des Raumes abgeteilt war – unsere Leseecke. Bloß, dass K. nicht sie selbst war, sondern der Löwe Hektor. Brav saßen wir danach auf unseren Plätzen und warteten darauf, dass Frau J. erschien. Als sie da war, verlangte sie von uns, die Englischbücher auf den Tisch zu legen – keiner reagierte. Auch bei weiteren Aufforderungen ignorierten wir sie rigoros und behaupteten irgendwann, die Bücher vergessen zu haben. Die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben und während wir schon leise zu kichern begannen, sprang Hektor, der Löwe, aus der Leseecke, direkt auf einen Tisch und brüllte laut. So laut, dass man hätte meinen können, tatsächlich einen Löwen im Klassenzimmer zu haben. Die Reaktion der Lehrerin überstieg unsere kühnsten Träume: Einige Sekunden stand sie völlig erstarrt da, wurde blass, blasser und .. rannte den Tränen nahe aus dem Klassenzimmer.

Ich vermisse euch, Freunde von damals. Ihr wart mir die liebsten und besten und ich weiß, dass ich euch niemals vergessen werde. Jeder von uns geht inzwischen eigene Wege. C. tut irgendwie noch immer, was sie will – aber sie war schon immer ein Mensch, der dadurch im Leben wirklich weiterkommt. N. tanzt auf teuren Ammer-Parties und hat sich nebenbei in magentafarbenen Gefilden niedergelassen. R. dürfte bald mit ihrer Ausbildung fertig sein und Menschen bzw. ihre Wehwehchen behandeln. S. studiert Biologie, V. ist bestimmt noch immer zuckersüß, K. darf bald (oder vielleicht jetzt schon) täglich mit fremden Kindern spielen und Erziehung ausprobieren und ich bin zufriedene Studentin.

Aber obwohl wir kaum noch in Kontakt stehen, ist da die Vergangenheit, die uns immer verbinden wird und ich weiß genau – würde ich heute eine von ihnen anrufen und um Hilfe bitten, würde keine von ihnen zögern. Weil wir nie vergessen werden.