Zarti: Kindheitserinnerung

25.03.11

Eine winzige neue Gastbeitragsreihe steht uns ins Haus, während die alte keineswegs beendet ist, sondern nur ein wenig lustlos vor sich hin faulenzt und darauf wartet, dass etwas geschieht. Verschiedene Schreiber werden euch hier nach und nach ein paar Kindheitserinnerungen spenden. Falls ihr ebenfalls eine Kindheitserinnerung habt, die ihr hier veröffentlichen wollt, schickt sie mir (samt Kinderfoto) an HannahKraus@gmx.de und wenn sie mir gefällt, wird sie gepostet.

Die nächste Kindheitserinnerung stammt von @Zartbeseitet, die ich heiraten würde, wenn sie ein Kerl wäre. Oder ich einer. So bleibt mir nur, sie heimlich zu lieben <3

Wenn ich meine Kindheit wie ein Album aufblättere, die Fingerspitzen über vereinzelte Bilder streichen lasse, dann bist du da. Du bist da. Doch nur in diesen Schnappschüssen, den festgehaltenen Augenblicken, als hättest du es – wie ein Zauberer – immer zum rechten Zeitpunkt vor die Kamera geschafft. Mit diesem Lächeln, das versprach, dass du nie gehen würdest, nie weg warst. Aber das ist nicht wahr.

Jetzt hast du deinen Platz mit Leere eingetauscht, mit der wir kämpfen müssen und auch damals, in diesem Wirbelsturm an kindlichen Erinnerungen, warst du nie da. Rar. Wie ein Schatz, an den man sich nicht sattsehen durfte, der einem nur zu seltenen Momenten vergönnt war – dabei warst und bist du mein Vater, auch wenn die Gefühle längst mit Schmerzen kämpfen.

Es gibt nicht viele Erinnerungen mit dir, welche die Schrift meiner Kindheit tragen. Aber ein Bild werde ich nie vergessen; es hat sich für ewig in meine Gedanken gebrannt.

Meine Mama – jung und doch vom Leben gereift – saß mit mir zusammen in ihrem Schlafzimmer. Die Bettdecke flüsterte bei jeder Bewegung, als ich unruhig vom Kissen näher zu ihr rückte, die kindlichen Augen auf ein Stofftier gerichtet, das so groß sein musste, wie ich selbst. Es fing meine Neugierde mit einem Netz ein und dennoch bemerkte ich das schwache Lächeln auf den Lippen meiner Mama, als sie sich ein Stück nach vorne beugte und mir mit viel Geduld erneut zeigte, wie man Schnürsenkel band. Denn dieses Stofftier war etwas besonderes: es lehrte mich viel, aber vor allem das Binden von Schnürsenkeln mit Hilfe der filigranen Fäden auf den Stoffschuhen des flauschigen Freundes. Wir haben das oft zusammen geübt – meine Mama und ich. Und egal, wie dumm ich mich dabei angestellt habe, hat sie dennoch nie aufgegeben.

An diesem einen Tag, es war Nachmittag und das Licht fiel fahl durch die breiten Fenster des Schlafzimmers, hatte ich lange geübt, eine kleine Schleife aus den Fäden zu machen. Denn es war ein besonderer Tag, auch wenn ich selbst davon nichts wusste.

Doch irgendwann veränderte sich der Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mutter; ein fernes Geräusch war der Grund dafür. Als Kind konnte ich nicht deuten, was in ihren Augen funkelte, jetzt weiß ich, dass es Erlösung war. Erlösung von der Sehnsucht.

Ehe ich mich versehen konnte, war sie aufgestanden und verließ das Schlafzimmer. Sie lief hinaus auf den schmalen Flur und zur Wohnungstür, die kurz darauf ins Schloss fiel. Ich glaube, ich hörte sie schluchzen. Einen erstickten, kurzen Schluchzer. Aber ich war ein Kind und zu gebannt von dem großen Stofftier, das mir zum Freund und Lehrer geworden war, um mich auch nur eine Sekunde loszureißen.

Es dauerte nicht lange, wenige Minuten, als meine Mutter wieder ins Zimmer trat – meinen Vater an der Hand und einem Lächeln auf den Lippen, das auch den Weg in ihre eisblauen Augen gefunden hatte. Er trug noch seine Uniform, aber wirkte selbst mit ihr erschreckend jung. Zu zart für Krieg und Leid. Dabei war er mit ganzem Herzen ein Soldat und das nun schon seit Jahren.

In diesem Moment warf ich nur einen kurzen Blick zurück zu ihm, zu gebannt von dem Stofftier, das meine Aufmerksamkeit voll und ganz gefangen hielt. Es fühlte sich für mich, als Kind, nicht an, als wäre er da, endlich wieder da. Als er zu Beginn ins Ausland für Einsätze gerufen wurde und wir Monate nur noch über Feldpost miteinander kommuniziert hatten, war jeder Tag eine Qual, Stunden des Nicht-Verstehens gewesen. Nur irgendwann nimmt man es selbst als Kind hin, dieses fremdbestimmte Schicksal. Und so fühlte es sich nicht an, als wäre er mir Monate fern gewesen, sondern wäre nie von meiner Seite gewichen.

»Komm«, flüsterte meine Mama und zog ihn tiefer ins Zimmer, »Julia muss dir etwas zeigen!« Sie ließ sich zurück auf das Bett sinken, neben mich und rückte das Stofftier zurecht, damit er einen Blick darauf werfen konnte. Die Fäden waren nun wieder frei, ungebunden und wild. Wie kleine Schlangen, die ziellos über den Stoffschuh krochen. Ich sah nicht zu ihm auf, weil … weil ich eine Aufgabe erledigen musste, die ich verdammt ernst nahm! Schuhe binden!

Ich rutschte mit ernstem Blick vor das Kuscheltier, nahm die dünnen Senkel und fing an, den Vers, den mir meine Mama zum einfachen Lernen beigebracht hatte, vor mich hinzumurmeln, während ich Ordnung schaffte. Und aus unzähmbaren Senkelschlangen eine kleine, aber feine Schleife wurde. Und mein Vater überbrückte, glücklich und unsagbar stolz, die letzte Distanz zwischen uns, drückte mich an sich und presste einen Kuss gegen meine Stirn.

Er war wieder da.

Im Laufe meiner Kindheit ging er noch viele Male und fand dadurch nie einen festen Platz in entscheidenden Erinnerungen. Nun, fast zwei Jahrzehnte später, ist er wieder weg. Aus eigenem Willen hat er sich aus unserer Familie entfernt und lebt nun sein losgelöstes Leben. Ohne uns. Womöglich erweckt diese eine, festgehaltene Kindheitserinnerung den Eindruck, sie wäre für meinen Vater – aber das ist sie nicht. Sie ist für meine Mutter … weil sie mir als Kind das Leben beigebracht hat.