Blauer Engel

09.02.10

Früher war die Welt noch einfach. Wahrscheinlich kreisten meine Gedanken nur um Beißringe und Schnuller. Vorallem Schnuller. Ich hatte diese riesige Schnullerbox – meine Ma wird sich sicher erinnern, welches Motiv drauf war – in der so viele Schnuller waren, dass ich sie gar nicht zählen konnte. Jeder schmeckte anders – wirklich – und es war ein allabendliches Ritual, dass ich verschiedene Schnuller testete, ehe ich den fand, mit dem ich die Nacht verbringen wollte.

Irgendwann war das vorbei, meine Ma entsorgte die Schnullerbox – was ich ihr bis heute noch nicht verziehen habe, obwohl ich schon 5 oder 6 war und mal ehrlich, da braucht man keine Schnuller mehr – und mit den Schnullern verschwand ein Teil meiner Kindheit. Aber so ist das, nicht wahr? Man lässt Dinge zurück, um sich einer neuen Phase, einem neuen Abschnitt in seinem Leben zu widmen und würde man diese Dinge nicht zurücklassen, wäre ein Neuanfang woanders gar nicht möglich.

Ich weiß noch, wie ich im Sommer immer darauf gewartet habe, dass der Eismann kam. Sein Klingeln hörte man schon, ehe er überhaupt in das Viertel hineingerollt war – genug Zeit, um zu Mama und Papa zu rennen und um Geld zu betteln. Wenn ich daran denke, spüre ich richtig den heißen Asphalt, der unter meinen nackten Füßen brutzelte und mich dazu zwang, von einem Schatten zum nächsten zu laufen, um nicht an den Steinen kleben zu bleiben. Ja, ich war ein Barfußläufer. Noch heute ziehe ich es vor, auf Socken und Schuhe zu verzichten, leider habe ich ein Alter erreicht, in dem man schief angeguckt wird, wenn man sich nacktfüßig in der Öffentlichkeit zeigt. Außerdem ist es auch ein Alter, in dem man realisiert hat, wie widerlich Füße sind. Damals habe ich nicht einen Gedanken daran verschwendet.

Aber wir wollten ja über den Eismann sprechen. Auf seinem Eis-Mann-Auto-Bus stand groß und breit Messapico. So hieß er, der Eismann. Messapico. Aber nicht für mich. Ich weiß nicht mehr, wieso und ich kann es auch heute nicht mehr nachvollziehen, aber wenn der Eismann kam, rief ich meinen Eltern zu, dass Pipipino kommt. Wer Pipipino ist? Ich weiß es nicht. Messapico und Pipipino haben keinerlei Ähnlichkeit – rein klangbildlich gesprochen – aber er war Pipipino und oft wusste ich gar nicht, wer gemeint war, wenn jemand Messapico sagte.

Der Eismann sah aus wie diese kleine Mangafigur, dessen Namen ich nicht kenne, weil ich mir kaum Mangas antue (abgesehen von Sailor Moon und Mila Superstar natürlich). Klein, gedrungen, dunkle Knopfaugen und glattes, schwarzes Haar, dessen Ansatz mit den Jahren immer mehr zurückkroch. Ich habe mich immer gefragt, wie er es schafft, dass das Eis in seinem Bus nicht schmilzt, obwohl die Sonne so heiß schien, dass mein Kopf in Flammen stand. Natürlich bestellte ich immer dasselbe. Etwas, was ich heute nicht mehr bestellen würde, nein, nicht einmal anrühren würde, hielte es mir jemand hin, weil es der Geschmack meiner Kindheit ist und ich es nicht ertragen würde, herauszufinden, dass meine Kindheit heute anders schmeckt als damals. Blauer Engel. So hieß es, glaub ich. Blaue Eiscreme, am liebsten mit bunten Perlen, von Pipipino in einer dunkelbraunen, knusprigen Eiswaffel serviert, während ich vor dem Wagen von einem Fuß auf den anderen tänzel, weil kein schattiger Flecken in der Nähe ist und meine Füße an der heißen Straße haften.

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte dieses Gefühl zurückholen. Die Hitze, die ich damals nicht als unangenehm empfand, das blaue Eis, das meine Zunge färbte, die flimmernde Luft, die wie ein Teppich über den Straßen lag und das Lachen der Kinder, die durch das Viertel rannten, das immer mein Zuhause bleiben wird.