Letzte Nacht in Twisted River – John Irving

20.05.10

Bisher gibt es vier Bücher, die mich in der Öffentlichkeit gedemütigt haben. Zum Beispiel, wenn ich ganz alleine in der S-Bahn saß und plötzlich angefangen habe, lauthals loszubrüllen zu lachen. Das hört ja dann auch nicht mehr auf. Ganz im Gegenteil: Die Sätze werden schriller, die Situationen abstruser, der Humor zwingender, meine Grimasse immer breiter, das Lachen fiepsiger – schließlich will man sich zügeln und nicht jeden gottverdammten Blick auf sich ziehen, wodurch die Mundmuskeln sich verkrampfen, man aber nicht aufhören kann, was wiederum dazu führt, dass diese unsäglichen Furzgeräusche entstehen, diese „Brrrps“ und „Kchmhpfhchhhhs“, ekelhaft- und zu aller letzt die Scham ins Unermeßliche steigt. Das ist so ziemlich der natürliche Kreislauf. „Vielleicht solltest du auf die Meinung von anderen komplett scheißen. Oder du hörst einfach auf in der S-Bahn zu lesen.“ Bei so Ratschlägen würde ich ja schon ganz gerne mal die Freundschaft kündigen. Bis dato gibt es vier Schriftsteller, die mich zum Schämen gebracht haben (warum eigentlich schämen?, die Frage ist viel interessanter): Ahmet Hamdi Tanpinar (Das Uhrenstellinstitut), Michel Houellebecq (Elementarteilchen, bei dem ich übrigens 200 Seiten nach dem ersten Lacher kurz davor stand, in Ohnmacht zu fallen), Charles Bukowski (Hollywood) und natürlich John Irving (Garp).

Bei Irving habe ich immer ein wenig das Gefühl, er schreibe seine Bücher in den Pausen zwischen den Autorenworkshops. Das kann natürlich daran liegen, dass ich bis dato nur Garp, Rettungsversuch für Piggy Sneed und „Letzte Nacht in Twisted River“ gelesen habe, in denen die Protagonisten größtenteils Schriftsteller sind, kein Zweifel. Wenn man in Irvings Werke eintaucht, dann fühlt man sich eingeweiht in die Geheimnisse des hohen Schreibstils. Hier ein hilfreicher Tipp anekdotisch verpackt, dort eine in Klammern gesetzte Anleitung für gut strukturierte Plots usw. Alles erscheint nicht nur nachahmenswürdig, sondern gleichzeitig so leicht begreifbar, das Geheimnis scheint nach Schema F zu funktionieren (eine Behauptung, die von jedem Meister seines Fachs so geäußert wird: 90% Handwerk und 10% Kreativität, ob das so stimmt, sei dahingestellt) und vor allem so mühelos zu schaffen. Da fließt literweise Schweiß und alles, was der Leser denkt ist: „Kann ich auch“. Nein, mein Freund, kannst Du nicht.

Zur Story: Der Roman beginnt 1954 und erstreckt sich bis weit in die nuller Jahre hinein. Dominic Baciagalupo ist Koch und das in einem kleinem Holzfällerort namens Twisted River. Eine Verkettung von unglücklichen Zufällen zieht einen Todesfall nach sich und so muss Dominic, zusammen mit seinem Sohn Daniel, Twisted River verlassen. Ihr restliches Leben wird von diesem einen Ereignis bestimmt. Du kriegst den Menschen aus dem Viertel, aber nie das Viertel aus dem Menschen, so der Grundtenor Irvings. „Letzte Nacht in Twisted River“ ist eine Geschichte über das Nichtankommenkönnens, ein unfreiwilliger Road-Trip mit der amorphen Angst als unnachgiebigem Einpeitscher. Eine 700-seitenlange Odyssee der verwehrten Ankunft, des unausweichlichen Eindringens der Vergangenheit in die Gegenwart, ein Abschließen ist nicht möglich, die einzelnen Kapitel dienen somit nicht als voneinander abgetrennte Bereiche, sondern vielmehr als simpler Zeitstrang.

Irving führt den Leser in gewohnt mäanderndem Stil in die neue Umgebung ein. Zuweilen, hier gerade am Anfang, liest sich das passagenweise zu bemüht und vielleicht auch zu früh von einer Szenerie in die nächste unbekannte Situation geworfen. Aber mit dem Finden des Rhythmus geht man in der Orientierungslosigkeit auf und lässt sich von der Story tragen; der besserwisserische Detektiv, dessen Präsenz auch Hitchcock durch seinen Suspense zu entthronen suchte, wird hier von vornherein ausgeklammert. Immer, wenn der Fährtenleser sich zu Wort meldet, also immer dann, wenn man den weiteren Verlauf der Geschichte „entschlüsseln“ kann, wurden die relevanten Wegmarkierungen bereits seit geraumer Zeit passiert.

„Siehst du den Baum, Ketchum?“, fragte ihn Danny und zeigte auf die kleine Kiefer. „Du meinst wohl den, den der Wind krumm und schief geweht hat“, sagte Ketchum. „Ja, genau der“, antwortete Danny. „Woran erinnert der dich?“.

„An deinen Dad“, sagte Ketchum ohne zu zögern. „Der Baum ist praktisch Cookies Ebenbild, aber er hält’s aus, Danny – genau wie dein Dad. Cookie hält’s aus.“

Irving geht es nicht um einen finalen Showdown, nicht um eine minutiös beschriebene Hetzjagd und der Versuch, dem Täter zu entkommen, der Showdown findet eher beiläufig statt und reiht sich nahtlos ein in die ursprüngliche Absicht Irvings: Eine drei Generationen umspannende Familiengeschichte zu erzählen. Die schwächeren Momente erlebt das Buch, wenn Irving einem Fatalistismus das Wort redet. Das führt auch zur ungewollten Ironie, dass die Unausweichlichkeit des Schicksals so vorhersehbar ist und gerade deshalb eine gewisse Lieblosigkeit nicht verbergen kann. Routiniert im handwerklichen Können, keine Frage, aber ohne nennenswerte Verve.

Abseits davon aber besticht die Rahmenhandlung in erster Linie durch eine tiefgreifende Charakterstudie: Die Flucht bietet hierbei den idealen Rahmen. Die Protagonisten werden über diesen Kunstgriff auf sich selbst zurückgeworfen und müssen sich permanent die gleichen Fragen beantworten: Wie wirkt sich die Angst auf die Familie aus? Kann man seine Vergangenheit hinter sich lassen? Resignieren oder Revoltieren? Besonders die Familie erscheint hier als einendes Element, wenn man sonst niemanden hat. Als ein Ruhepol, das reagierende Moment auf externe Einflüsse, denn die maßgeblichen Impulse werden auch hier von der Außenwelt geliefert. Wie ein Schachspieler in der Defensive, auf der Flucht vor dem Matt. Nach außen sind Dominic und Daniel in einer Passivität gefangen, sie müssen sich nach der Nemesis richten, und nach innen definieren beide sich über eben diese Reaktionsfähigkeit, genauer: Gemeinsame Reaktionsfähigkeit, denn die Erfahrung der Flucht ist identitätsstiftend und erzeugt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Vor diesem Hintergrund ist auch der Titel zu lesen: „Letzte Nacht in Twisted River“ bildet zwar nicht den Inhalt des Buches, aber ihren Startpunkt. Da verwundert es dann auch nicht mehr, dass die Familie am Ende mehr Leute umfasst als nur Blutsverwandte. Hier fällt Irvings detailverliebter Erzählstil auf, dessen wie beiläufig aufgeführten Anekdoten sich durch einen Satz ihr Momentum erreichen. Dementsprechend liegt genau in diesem Punkt die wesentliche Macht von „Letzte Nacht in Twisted River“.

Dass diese Details jedoch auch dafür gesorgt haben, dass ich während des Romans ununterbrochen Hunger hatte – Dominic ist ein ausgezeichneter Koch, der eine besondere Zutat für seinen Pizzateig hat – das ist, na ja, das Sahnehäubchen.

Preis vs. Leistung:
[rating:50]
Mit 26,90€ – steht zumindest auf der Rückseite der Presseausgabe – ist das Buch mit Sicherheit kein Schnäppchen.

Schreibstil:
[rating:90]
Irving in gewohnter Manier. Genau mein Gusto.  Nur der Anfang zieht sich ein wenig.

strong>Story/Idee:
[rating:73]
Die Story an sich ist auf den ersten Blick nicht weiter spektakulär. Die Umsetzung, die detailverliebte Verzahnung hingegen bieten hier interessante Anknüpfungspunkte. Aber für mich ist klar, dass der Erzählstrang in diesem Buch nicht das tragende Element ist, sondern nur ein grobgesteckter Rahmen, innerhalb dessen Irving seinen Beobachtungen Raum zur Entfaltung geben kann.