Sumi: Kindheitserinnerung
03.02.11Eine winzige neue Gastbeitragsreihe steht uns ins Haus, während die alte keineswegs beendet ist, sondern nur ein wenig lustlos vor sich hin faulenzt und darauf wartet, dass etwas geschieht. Verschiedene Schreiber werden euch hier nach und nach ein paar Kindheitserinnerungen spenden. Falls ihr ebenfalls eine Kindheitserinnerung habt, die ihr hier veröffentlichen wollt, schickt sie mir an HannahKraus@gmx.de und wenn sie mir gefällt, wird sie gepostet.
Der nächste Beitrag kommt von Sumi und hat mich ganz fürchterlich traurig gemacht .. : (
Mein Bruder kam schwerbehindert auf die Welt. Er wurde mit offenem Rücken und einem Wasserkopf geboren, lernte nie sprechen und konnte weder sehen noch laufen. Meiner Mutter sagte man, Sven würde nicht Älter als 4 Jahre werden. Die ersten 6 Monate seines Lebens verbrachte er im Krankenhaus. Immer und immer wieder musste er operiert werden. Meine Eltern hatten viel Mühe mit ihm und wollten eigentlich nach ihm keine Kinder mehr bekommen. Zum Glück für meine Schwester und mich haben sie sich später doch dafür entschieden.
Er konnte zwar nicht sprechen, aber seine Gefühle konnte Sven sehr wohl vermitteln. Die tiefe Stimme meines Onkels machte ihm Angst und brachte ihn zum weinen. Die Stimmen meiner Eltern und mir sorgten immer für ein Strahlen in seinem Gesicht.
Er musste über eine Sonde durch die Nase ernährt werden. Meine Mutter legte diese Sonde immer selbst und dazu brauchte sie viel Ruhe. Fing mein Bruder also an zu weinen, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich schnappte meine Schwester und ging mit ihr spielen, damit meine Mutter Sven in Ruhe versorgen konnte. Wir fühlten uns nie hinten angestellt, wir wusste einfach, dass ein Kind wie er mehr Zuwendung braucht.
Wenn man ein behindertes Kind hat, wird man mit schlimmen Blicken und Kommentaren konfrontiert. Ein paar Jugendliche sollen einmal an meiner Mutter vorbei gegangen sein und angewidert in den Kinderwagen geblickt haben. Meine Mutter erzählte, ich hätte diese Jugendlichen mit meinen 4 Jahren ganz schön zur Sau gemacht. Sie sollten nicht so blöde gucken, weil mein Bruder doch nur anders aussah.
Einmal wurden meine Eltern zu einer Hochzeit eingeladen und der Bräutigam sagte zu meinem Vater: „Die Mädchen kannst du ruhig mitbringen, aber den Jungen musst du bitte zuhause lassen.“. Ich glaube, das war das schlimmste, was jemals jemand zu meinen Eltern gesagt hatte.
Irgendein Amt, das für irgendetwas zuständig ist, wollte meine Eltern dazu zwingen, meinen Bruder in eine Schule zu stecken. Er könne dort „lernen“ und mit anderen Kindern „spielen“. Der Junge konnte nicht einmal sitzen, geschweige denn „spielen“ und die Zuwendung, die er dort von Fremden bekommen sollte, konnte er genauso gut von uns bekommen… Er musste nie zur Schule.
Am vierten Dezember 1994 – ich war 6 Jahre alt – hatte mein Bruder schwere Atemnot. Meine Tante ging mit meiner Schwester und mir ins Kino und wir sahen unseren ersten Kinofilm, „Der König der Löwen“, während meine Eltern mit meinem Bruder ins Krankenhaus fuhren. Als wir aus dem Kino kamen, waren wir schwer begeistert vom Film und dachten gar nicht mehr daran, dass es unserem Bruder morgens schlecht gegangen war.
Wir fuhren zum Haus meiner Oma, wo die ganze Familie versammelt war. Das war nachmittags nichts ungewöhnliches, aber dass mein Vater uns auf halben Weg im Flur entgegen kam, war komisch. Er nahm meine Schwester und mich in den Arm und sagte mit zitternder Stimme „Sveni ist tot“. König der Löwen hat meine Mutter bis heute nicht gesehen.
Alles, was danach passierte, weiß ich nicht mehr, bis zum Tag seiner Beerdigung. Der ist mir so klar vor Augen, als wäre er erst gestern gewesen. Meine Mutter weiß von diesem Tag heute nichts mehr und alles, was sie weiß, weiß sie aus meinen Erzählungen.
In der Leichenhalle schmiss sich meine Mutter auf den Boden und trommelte mit den Fäusten auf den Sarg. Sie schrie, man solle ihr ihren Sohn zurück geben und viele andere Dinge, die ich lieber nicht wiederhole. Auf dem Weg zur Kirche musste sie von ihren Brüdern und ihrem Vater gestützt werden und war immer wieder der Ohnmacht nahe.
Eine flüchtige Bekannte – die froh sein kann, dass meine Mama sich besser unter Kontrolle hatte, als ich es in ihrer Situation gehabt hätte, wagte es, wenige Tage nach der Beerdigung zu sagen, sie solle doch froh sein und hätte es doch jetzt viel leichter.
Mit der Zeit wurde die Trauer erträglicher und auch meine Mutter lernte, weiter zu leben. Manchmal sagt sie, dass sie nur noch lebt, weil sie auch noch Verantwortung für ihre beiden Töchter hatte. Jedes Jahr am 21. November (sein Geburtstag) und am 4. Dezember weint meine Mutter sich in den Schlaf dann kann ich sie nur damit trösten, dass Sven durch ihre gute Pflege 9 statt nur 4 Jahre alt wurde…