Vielleicht und auf jeden Fall.

21.10.09

Vielleicht wäre ja ein Schmetterling über die Strassen geflogen, wenn es ein zarter Frühlingsnachmittag gewesen wäre, der sich langsam, ganz gemach an die erblühende Wärme der ängstlich erwachenden Natur herantastet. Vielleicht wäre der kleine blonde Junge von diesem unschuldigen Schauspiel derart fasziniert gewesen, dass er dem Schmetterling sogar bis zur nächsten Blume gefolgt wäre oder noch weiter, bis in tief in den Wald hinein. Vielleicht hätte er nicht auf seine Mutter gehört und wäre nicht den schnellsten Weg zum Supermarkt gelaufen, um noch schnell ein paar Eier zu besorgen, vielleicht seien ja sogar noch Bio-Eier vorrätig, dann solle er auf jeden Fall die guten Bio-Eier nehmen. Vielleicht hätte dieser kindische Ungehorsam dafür gesorgt, dem Jungen eine Welt zu zeigen, abseits kürzester Wege von daheim in die Schule, von daheim in die Kirche oder von daheim in den Supermarkt. Eine Welt, die von suchenden Augen ertastet und entdeckt werden will mit all ihren Abkürzungen und Geheimgängen, die ganz genau genommen eigentlich weder Abkürzungen noch Geheimwege sind, sondern vielleicht der Grund, sich endlich mal wieder die Kleidung dreckig zu machen, weil man dem Verlangen, auf Bäume klettern zu wollen, endlich nachgegeben hat. Vielleicht hätte der Junge diesen Ungehorsam bitter nötig gehabt, damit er nicht zu dem obrigkeitshörigem Arschloch geworden wäre, das sich, in seiner unsterblich kindischen Hoffnung, es würde keiner merken, ab und an ein paar 500€-Scheine in sein Portemonnaie steckte, das von dreckigem Geld mittlerweile tiefschwarz eingefärbt wäre. Ein Schwarz so tief und frisch zugleich, dass er jeden Abend seine Hände mit der teuren Kernseife gründlich putzen musste, um den Schein der bürgerlichen Frömmigkeit aufrechtzuerhalten. Aber es war Winter. Also auch kein Schmetterling, kein Wald, kein Baum, kein Vielleicht. Nur der Supermarkt.
Wenn es doch nur Sommer gewesen wäre.
Vielleicht würde seine Mutter ihn dann bei der Polizei abholen, sein verheultes, vor gelbem Rotz triefendes Gesicht in die Arme nehmen und ihm sagen, dass alles gut sei. Vielleicht hätte sie dann nicht ins Krankenhaus gehen müssen, um sich von einem weißen Kittel anzuhören, dass man bis an die absolute Grenze des Menschenmöglichen gegangen sei und das Kind sich immer noch in Lebensgefahr befinde. Es würde überleben. Vielleicht.
Dann würde seine Mutter jetzt in diesem Moment nicht hier sitzen, die Fingerspitzen an den Lippen, der Blick auf das in Flammen stehende Luftschloss gerichtet, das zeitgleich mit ihrer Hoffnung zu Schutt und Asche zerfallen wird. Das auf jeden Fall.