Endlose Nacht

20.07.10

Siegen. Autobahnen sehen überall gleich aus, vorallem im Dunkeln. Ich drücke das Türschließknopfdingsi, weil ich mir vorstelle, wie Menschen aus den Büschen springen und die Tür aufreißen wollen. Engelskirchen. Was für ein schöner Stadtname. Bloß an nichts anderes denken. Lies die Schilder. Wieso ist da jetzt ein McDonalds Lastwagen vor uns? Ich krieg Hunger und versuche es zu ignorieren, weil es mir unpassend erscheint. Blick auf die Geschwindigkeit: Wow, 170. Fühlt sich gar nicht so schnell an. Köln, 64 Kilometer. Ich rechne, das dauert. Wir legen 6 Kilometer in 3 Minuten zurück, ob das viel ist? Blaulicht. Autobahnpolizei. Schwertransporter. Jetzt fahren wir langsamer, obwohl die Zeit noch schneller zu vergehen scheint, aber ein Blick auf die grün leuchtende Uhr zeigt: Das, was ich für 10 Minuten hielt, waren bloß 2, es ist noch immer 2:21.

Was ist wenn … Nicht dran denken. Der Lastwagen vor uns hat ein ME-Kennzeichen. ME für Mettmann. Der Heimat so nah und doch noch nicht mal in Köln. Der McDonalds Lastwagen ist immer noch da, der Schwertransporter aber auch. Beide wollen nach Köln. Endlich steht auch Düsseldorf auf den Schildern. A46, Düsseldorf Süd. Irgendwie landen wir in Neuss und müssen umkehren. So viel verschwendete Zeit. Jetzt ist schon fast 3. An der Tankstelle nach dem Weg fragen – wir waren bloß eine Parallelstraße zu weit weg.

Ob der Pförtner da die ganze Nacht sitzen muss? So viel Dunkelheit hier, dass die Sterne wirklich wie die in Büchern beschriebenen Diamanten aussehen. Nachtgeräusche, die abrupt enden, als wir im Eingangsbereich der Klinik stehen. Schon viertel nach 3. Selbst in den menschenleeren Fluren herrscht betretenes Schweigen. Der Türmensch schickt uns zum Aufzug. Wir fahren in die falsche Etage. „Nein, hier ist er nicht mehr, Sie müssen auf die Intensivstation im 1. Obergeschoss.“ Wieder der Aufzug. Es gibt keinen Spiegel, aber das ist vielleicht auch besser so. Das Schweigen wird immer drückender. „Ja, warten Sie hier in der Besucherschleuse.“ Der diensthabende Arzt sieht aus wie gemalt. Es würde mich nicht wundern, ihn morgen bei Grey’s Anatomy zu sehen.

Im Becken schwimmen Guppis. Bauchige Fische. Ich klopfe gegen das Glas und die Viecher zucken von der Stelle weg. Das Geräusch klingt seltsam hohl, bricht jedoch kurz die Stille. Der rote Nagellack auf meinen Fingernägeln sieht dunkel und rostig aus. Wie Blut. Alles passt sich der Umgebung an. Schon 3:20, noch immer niemand da. Ich klingel noch mal. Schwester Anja fragt, ob der Arzt noch nicht gekommen sei. Nein, ist er nicht. Weiter warten und gegen Guppis klopfen, bis der Arzt auftaucht. Viel zu jung. Ob man dem was zutrauen kann? „Sind Sie jemand?“ Nein, ist er nicht.

Wir gehen zu zweit den Gang entlang. Ich dachte, ich müsste einen Kittel anziehen. Muss man das auf Intensivstationen nicht? Ob der Arzt wohl Grey’s Anatomy guckt? Hier ist es noch stiller, aber die Stille gleicht keinem betretenen Schweigen mehr, sie ist eher ein hoffnungsvoller Blick mit resigniertem Seufzen. Die Türen sind offen. Bewegungslos liegen Menschen in Betten. Ein junges Mädchen liegt dort und hat viel zu viele Schläuche in sich. Ich will da nicht rein, denke ich, als ich am Ziel angelangt bin. „Die Situation ist sehr kritisch.“ Idiot. Es ist 3:40, ich habe Blutnagellack an den Fingern, spüre den zitternden Tod wartend in allen Ecken der Station und sehe ihn, wie er dort liegt und auch zu viele Schläuche in und an sich hat – natürlich ist die Situation kritisch. Herzschlag bei 96. Ein blau angezeigter Wert bei 17, der nach einer Bewegung der Schwester auf 37 ansteigt. Ist das eine Verbesserung?

Seine Haut fühlt sich kalt unter meinen Fingern an. Nicht kalt, als würde er frieren, aber kälter als sonst. Kälter als in den letzten Jahren. Sein Herzschlag geht hoch auf 97. „Kann er hören, dass ich hier bin?“ Das wisse man bei einem künstlichen Koma nicht so genau. Schweigen meinerseits, während der Arzt redet. Tumor entfernt, 1 Herzinfarkt während der Operation, 2 Herzstillstände + Fremdwort. „Ist das so wie Kammerflimmern?“ – „Ja, nein. Eigentlich nicht.“ – „Das kenn ich von Grey’s Anatomy.“ Ein mitleidiges Lächeln trifft mich. Ja, Herr Doktor, ich weiß, dass ich zu Scherzen neige, wenn die Panik wie Wellen in mir hochschlägt. Ich ziehe meine Hand weg; Pulsschlag wieder bei 96. Da fließt Blut in einen Beutel. Auf der anderen Seite fließt Blut in ihn. „Sein Kreislauf arbeitet im Moment nicht von alleine. Ich lasse sie jetzt alleine.“ Wenn du jetzt gehst, schreie oder weine ich, will ich sagen, doch das Stationsschweigen hat auch mich inzwischen überwältigt. Arzt geht. Ich weine. Lege meine Hand wieder auf seine Schulter, Pulsschlag wieder bei 97. Er weiß, dass ich da bin. Er muss es wissen. Ich weine noch mehr und Schwester wieauchimmer ignoriert mich, während sie wieder den blauen Wert verändert.

Geflüsterte Worte, die keinen Sinn ergeben. Worte, die man in solchen Situationen sagt, weil es nur diese gibt. Worte, die dafür sorgen, dass sich alles schlimmer anfühlt. Wahrer. Die Zeit vergeht nicht, vielleicht stand ich ewig dort, ehe ich weinend den Flur hinab taumelte. Kliniken sind gruselig. Die Welt ist gruselig. Fass mich bitte nicht an, sonst schrei ich. Die Angst sitzt wie ein Kloß in meinem Hals, ich kann kaum atmen und die Nacht scheint noch dunkler geworden zu sein. Irgendwo plätschert was, ob das der versteckte Springbrunnen ist?

4 Uhr. Auf den Autobahnschildern steht nirgends Köln, sind wir hier richtig? Wieso steht da jetzt Oberhausen, das ist doch die A46? Aachen und Venlo klingen auch eher falsch. Wir nehmen die Ausfahrt bei Oberhausen Lierich und es sieht trostlos aus. Irgendwann dann wieder die richtige Autobahn. 4:21, vor 6 Uhr werden wir nicht zurück in Siegen sein. Ob noch irgendwo ein McDonalds offen hat? Ich hab immer noch Hunger und noch immer kommt es mir falsch vor. Hat eh keiner mehr offen.

Köln, Engelskirchen, Siegen, 7 Uhr. Meine Müdigkeit ist weg, aber ich lege mich trotzdem ins Bett. Um 9 der erste Anruf, Zustand unverändert. Um 10 der nächste, heute wohl keine weitere Operation mehr. Um 13 Uhr erneut: Wasser im Bauch, er musste wieder operiert werden, aber das Herz ist vorerst stabil.

Ein Blick in seine letzte E-Mail: „Ich werde das überleben.“ Es gibt nichts zu sagen. Man kann nur warten. Im Warten war ich noch nie gut. Er auch nicht. Aber er hat es versprochen, oder? Er hat es versprochen.