Unterführung

22.12.10

Wir gehen den nassen Weg entlang, der hinten am Park vorbei führt. Unsere Familie hat selten Spaziergänge gemacht. Sicher gab es einen Grund dafür, dass wir uns dort befanden, aber ich erinnere mich nicht. Das Laub klebt feucht und ein wenig glitschig am Boden, nur die Meter, die unter der Unterführung hindurch führen, sind frei davon.

Wenn ich hinaus blicke, sehe ich nur Schwärze dort, wo der Zug fahren müsste. Ich weiß gar nicht, ob dort noch immer Züge fahren, aber die Finsternis, die mir so fest entgegen schlägt, dass man sie beinahe anfassen könnte, macht mir Angst. Instinktiv greife ich nach der Hand meiner Mama – wie immer im Leben, wenn ich mich unwohl fühle. Meine Hand in ihrer und keiner kann mir mehr etwas zu leide tun. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

(Via)

„Kennst du den Jungen, der dort oben wohnt?“, fragt mich mein Dad und schaut mich verschwörerisch an, als würde er mir eines dieser Geheimnisse anvertrauen, die nur Erwachsene kennen. Misstrauisch erwidere ich seinen Blick, schüttle knapp den Kopf, lächle ein wenig hilflos. „Der Junge war etwa so alt wie du, als er hier hinauf geklettert ist.“, erklärt er und zeigt auf eine eingefallene Treppe, die halb im Erdreich versunken ist und in die Dunkelheit hinauf führt. „Er ist auf die Gleise geklettert, weil er glaubte, hier fahren keine Züge mehr, aber genau in dem Moment kam einer.“, mit großen Augen starre ich zu ihm hoch, spüre, wie der Druck von Mamas Hand ein wenig stärker wird, obwohl sie schweigt. „Er hat versucht, sich an die Wand zu pressen, aber der Zug hat seinen Körper erfasst.“

In kwälender Stille vereint laufen wir einige Schritte weiter, lassen die Unterführung hinter uns. „Er ist noch immer dort oben, der Geist des kleinen Jungen. Nachts, wenn es ganz still ist und sich keiner mehr hier befinden sollte, kann man ihn hören, wie er leise heult.“, ich mache eine abwinkende Handbewegung. An Geister glaube ich nicht. Aber als wir an den Pollern angelangt sind, an denen der Parkweg endet und das Leben der Siedlung zurückkehrt, drehe ich mich kurz um. Meine Augen suchen erneut die Finsternis, die dort wabert und eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, während ich lausche und lausche, aber nichts höre, obwohl es schon dunkel ist.

Jahre später ging ich diesen Weg alleine, wenn ich aus der Stadt kam und immer musste ich an den kleinen Jungen denken, der dort gefangen ist. Sein könnte. Oder vielleicht nie existierte. Ferngehalten habe ich mich von dort trotz allem meist.