Fenstersturz

22.01.11

Ich traf den Mann mit der Fistelstimme zum mittleren Ende meines 16. Lebensjahres. Das Jahr wird am Ende eines dieser Jahre gewesen sein, die besser nicht in Erinnerung geblieben wären. Und genau deswegen bleibt es unvergesslich, aber ich sollte von vorne beginnen.

Meine Jahre als süße Kleine waren gezählt – ein Zugeständnis, das mir noch heute schwer fällt, aber wer eine Geschichte mit einer Lüge beginnt, sollte vermutlich unbekannter Fantasyautor werden, um in den Tiefen der trendaufspringenden Schreiberlinge unterzugehen. Ein Schicksal, das noch schlimmer zu ertragen wäre, als die Gewissheit, keine süße Kleine mehr zu sein. An dieser Stelle erinnert der Mann mit der Fistelstimme mich immer daran, dass wir alles sein können, was wir wollen, ehe er an seine Pfeife zieht, die zwischen seinen Zähnen klemmt, und sein Körper bewegungslos fast in dem wuchtigen Ledersessel verschwindet, der natürlich in völlige Dunkelheit getaucht ist. Aber er schrieb schließlich auch Fantasyromane, was kann man also aus seinen Aussagen herausziehen?

Meine Süßheit legte ich zusammen  mit den fallenden Herbstblättern ab, die nichts mit meiner Geschichte zu tun haben, aber Herr Fistelstimme lehrte mich, Metaphern zu gebrauchen, die meine Worte veranschaulichen sollen. Ich rede mir gerne ein, dass es keine bewusste Entscheidung gewesen sein kann. Dass ich wie ein Kätzchen war, das größer und zur Katze wurde und ja, Katzen sind natürlich noch immer ganz liebenswert, aber sie haben nicht mehr die Niedlichkeit eines Kätzchens, nicht wahr? Sie sind großgewordene Niedlichkeiten und so eine wäre ich auch gern. Stattdessen wachte ich eines Morgens auf, klaubte die aus meinen Haaren gefallen rosafarbenen Spängchen aus dem Bettzeug und war .. entsetzt. Ich weiß nicht, ob man sich dieses Entsetzen vorstellen kann. Es war das Gefühl, das mich nun verfolgte, seit der Fistelstimmenmann aus dem Fenster des fünften Stocks fiel und direkt vor meinen in Sandalen steckenden Füßen landete. Es war ein perplexes Entsetzen, das, ganz in sich selbst gefangen, keine Gedanken zulässt, die zu artikulieren wären, mich aber dazu zwang, die Haarspangen aus meinem Leben zu verbannen. Ihnen folgten die Söckchen, die Kleider und mein Kätzchen – ja, ich hatte eines, aber es ersetzte sich selbst durch eine Katze – und übrig blieb ein maskenloses, kantenloses Nichts. Und eine Katze.

Während ich in zwischen meinem Zustand der Selbstverlorenheit und der Neuerfindung pendelte, machten sich meine Füße von alleine auf dem Weg zu ihm. Dem Mann mit der Fistelstimme. Er fistelte natürlich nicht, als er mir vor die Füße fiel. In dem Moment ächzte er eher und sah mich aus seltsam wässrig wirkenden blauen Augen an, die viel zu ausdrucksstark für sein Altmännergesicht wirkten. Er ächzte und ein wenig faszinierte es mich. Ich glaube nicht, dass ich geächzt hätte, wäre ich aus dem fünften Stock gefallen. Vermutlich hätte ich eher geschrien oder, sofern mein Unterbewusstsein da mitgespielt hätte, geweint. Weinen ist ein Überbleibsel meiner Niedlichkeit. Zumindest rede ich mir das gerne ein, wenn dicke Tränen meine Wangen runterkullern und ich jemanden suche, den ich mit großen, verzweifelten Augen anstarren kann. Wie dem auch sei: Sein Ächzen faszinierte mich und diese Faszination, gepaart mit dem bleibenden Entsetzen, hält nach wie vor an.

Wenn ich heute, wie so oft, den Mann mit der Fistelstimme besuche und ihn sehe, wie er in ewiger Bewegungslosigkeit gefangen in seinem Ledersessel sitzt, sagt er mir immer, dass er jederzeit wieder aus dem fünften Stock springen würde, um mich in die Welt zurück zu holen. Ich lächle dann ein wenig darüber, dass ich vor seinem Ächzen gar nicht wusste, dass ich der Welt entschwunden war, nehme ihm die Pfeife aus dem Mund und halte ihm das Glas mit dem kleinen Strohhalm hin, den er seitdem zum Trinken braucht. Er lächelt dann wissend zurück, wenn ich beschämt über mich selbst den Kopf senke, sobald mir bewusst wird, dass es sein Leiden ist, das mich lebendig macht.

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